Dutch Harbor / Wien - In den vergangenen 33 Jahren hat das Meereis in der Arktis drei Viertel seines Volumens verloren. Eisflächen schmelzen auch in diesem arktischen Sommer dramatisch schnell und machen die bisher abgeschiedene Gegend dank Klimawandel und steigender Erderwärmung wirtschaftlich attraktiv: Schiffrouten wie die lange Zeit unpassierbare Nordwestpassage werden wieder schiffbar. Die Fischereiindustrie spitzt auf neue Fischgründe. Erdölkonzerne lechzen nach den 90 Milliarden Fass Öl zu je 159 Liter, die unterhalb des Eises lagern sollen - und den derzeitigen Weltverbrauch für drei Jahre decken könnten.

Umweltorganisationen warnen vor ökologischen Katastrophen im bisher fast unberührten Gebiet. Dennoch hatte der Ölgigant Royal Dutch Shell geplant, ab 14. Juli erste Probebohrungen in der Tschuktschen- und Beaufortsee nördlich von Alaska durchzuführen. Dagegen hat sich vorerst aber die Natur gewehrt. Auch wenn die Arktis 2012 neuerlich auf einen Rekordverlust an Eisvolumen zusteuert, ist just in diesen Gegenden nahe Alaska das Eis in diesem Winter weiter vorgedrungen als errechnet. Shell musste den Einsatz der mächtigen Bohrschiffe frühestens auf die erste August-Woche verschieben.

Ölrausch im Ökosystem

Eines der Schiffe, die Noble Discover, hat am Wochenende vor Dutch Harbor auf Unalaska Island für einen PR-Skandal erster Stufe gesorgt. Der Anker vor der zu Alaska gehörenden Inselgruppe der Aleuten löste sich, das Schiff trieb unkontrolliert auf das Festland zu. Taucher sollen in dieser Woche untersuchen, ob das Schiff Schäden davongetragen hat. Kritiker fühlen sich mit diesem Vorfall bestätigt und warnen vor der Gefahr des Ölrausches im sensiblen Ökosystem. "Shell kann seine Bohrschiffe nicht einmal in einem geschützten Hafen unter Kontrolle halten", sagte Jackie Dragon von Greenpeace. "Was wird passieren, wenn das Schiff mit meterhohen Wellen und Packeis zu kämpfen hat, während es nach Öl bohrt?"

Das Zeitfenster für Shell, Öl im hohen Norden zu finden, ist kurz. Bis 31. Oktober müssen die drei Probebohrungen aufgrund vertraglicher Bestimmungen abgeschlossen sein. British Petroleum (BP) musste die Milliardenpläne, eine Bohrinsel bis 2013 an der Grenze zu Alaska zu errichten, überhaupt für unbestimmte Zeit auf Eis legen. "Die haben es verschieben müssen, weil sie strenge Umweltauflagen nicht erfüllen konnten", sagt Karin Scholz von Greenpeace Österreich.

Eisbären in Gefahr

Die Umweltorganisation machte in den vergangenen Wochen mit konzertierten Aktionen für ein UN-Schutzgebiet in der Arktis auf sich aufmerksam. Prominente wie der britische Unternehmer Richard Branson, Paul McCartney, oder Radiohead-Sänger Thom Yorke unterstützen die Unterschriftenaktion. Auf dem Wiener Karlsplatz schmilzt seit Montag eine drei Meter hohe Eisbärskulptur aus Eis vor sich hin, um auf den bedrohten Lebensraum des gefährdeten Tieres hinzuweisen. Die Eisbären müssen auf der Suche nach Nahrung immer größere Distanzen schwimmend anstatt zu Fuß auf dem Eis zurücklegen - und ertrinken vor Erschöpfung. Zudem müssen die Tiere über den arktischen Sommer immer länger überhaupt ohne Nahrung auskommen. (David Krutzler/DER STANDARD Printausgabe, 18.7.2012)