Tactile Paintings: Aus zweidimensionalen Gemälden werden mit Computerunterstützung dreidimensionale Tastmodelle erstellt.

Foto: Mantler/VRVis

Wien - Liebevoll hält Raffaels "Madonna im Grünen" das Christuskind fest in ihren Händen, neben ihnen kniet Johannes der Täufer in Knabengestalt. Die zu einer Pyramide geformte Gruppe ist eingebettet in eine sanfte Wiesenlandschaft, in der Ferne erhebt sich eine an einen Hügel drapierte Stadt. Viele sorgfältig von dem Renaissance-Künstler gemalte Details laden den Betrachter zum visuellen Verweilen ein.

Ein Anblick, von dem Blinde und sehbehinderte Menschen in der Regel ausgeschlossen sind. Dass zweidimensionale Kunst aber auch für sie in größerem Umfang erlebbar gemacht werden kann, ist das Ziel von Andreas Reichinger, Mitarbeiter am Wiener Zentrum für Virtual Reality und Visualisierung (VRVis).

Bilder zum Fühlen

Gemeinsam mit dem Kunsthistorischen Museum hat er in einem Projekt durch computerunterstützte Prozesse Raffaels Madonna im Grünen und zwei weitere Meisterwerke der KHM-Gemäldegalerie in "Tactile Paintings" umgewandelt. Ertastbare 3-D-Reliefs. Bilder zum Fühlen.

Tastmodelle von Gemälden sind zwar nicht neu. Detaillierte Reliefplastiken können aber nur gut ausgebildete Bildhauer aufwändig herstellen. Mit einem einfachen Mausklick ist es auch bei von Reichinger mit Computerhilfe erstellten Modellen nicht getan. Im ersten Schritt müssen wichtige Strukturen des Werks identifiziert werden. Dabei entstehen Liniengrafiken, die die Bilder in semantisch sinnvolle Einheiten separieren und in ein Linienbild umwandeln. Die zweite Stufe fügt Tiefe hinzu. Das menschliche Auge ist trainiert, diese versteckte dritte Dimension zu dekodieren, während der Tastsinn bereits dreidimensionalen Input erwartet.

Drei Stufen zum 3-D-Relief

Eine von Reichinger entwickeltes intuitive Benutzeroberfläche ermöglicht, schnell Tiefenrelationen einzuzeichnen. Die Software weist dann jedem Objekt eine passende Tiefe automatisch zu. Dann wird das Tiefenbild in Schichten konvertiert, die aus Kunststofffolien mittels Laser-Cutter geschnitten und aufeinandergeklebt werden. In der dritten Stufe werden dann noch Oberflächentexturen wie etwa der Faltenwurf des Kleids, eingearbeitet. Zu guter Letzt werden von einem Negativabdruck Kopien gegossen.

Zwei Wochen Arbeit

Mehr als zwei Wochen Arbeit fließt derzeit in ein so begreifbar gemachtes Gemälde. Im Rahmen seiner Doktorarbeit setzt Reichinger jetzt die Entwicklung mit dem Ziel fort, den Designprozess effizienter und kostengünstiger zu gestalten. Damit blinde Menschen möglichst viele Kunstwerke begreifen und erleben können. (Karin Tzschentke, DER STANDARD, 19.7.2012)