Bild nicht mehr verfügbar.

Ungarische Roma: In einem Test sollten Roma-Kinder eine Vase zusammensetzen. Dass Kinder, die keine Vase im Haus haben, dabei benachteiligt sein könnten, kam den Psychologen nicht in den Sinn.

Foto: REUTERS/LASZLO BALOGH

Der langjährige Balkan-Berichterstatter Norbert Mappes-Niediek hat ein Buch über Roma in Osteuropa geschrieben. Was an den Vorurteilen über die Zuwanderer stimmt - und was nicht. Ein Auszug daraus.

Andere Minderheiten, wird ein gewandt, begreifen die widrigen Verhältnisse als Herausforderung und fordern vom Staat eine angemessene Ausbildung ein, wenn sie sie nicht gar selbst organisieren. Widrige Verhältnisse dienen dazu, die Spreu vom Weizen zu trennen. So wird neuerdings in einigen westlichen Ländern, zum Beispiel in Deutschland und den Niederlanden, gegenüber Migranten argumentiert: Türken und Araber, heißt es dann, nehmt euch ein Beispiel an den eingewanderten Vietnamesen und Chinesen! Die nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand! Die Roma aus Osteuropa gehören dabei selbstverständlich zur Spreu. Wer sich den toughen Lebensregeln der Zuwanderungsgesellschaft nicht unterwirft, hängt entweder einer rückständigen, irrationalen Kultur an, oder es mangelt ihm einfach an Intelligenz.

Westliche Gesellschaften geben, wenn sie sich auf diese Logik einlassen, ihren moralischen Vorsprung gegenüber den offen Diskriminierenden im Osten bereitwillig preis. Sogar die Abschiebung von Roma-Kindern in Sonderschulen, die in Rumänien gerade überwunden wurde, hält in einigen entwickelten Demokratien Westeuropas wieder Einkehr. Das schlichte Argument dafür ist, dass Roma eben dümmer seien als andere.

Minderbegabung an der Grenze zur Debilität?

Geistiger Vater dieser These ist der Leipziger Intelligenzforscher Volkmar Weiss. Er beruft sich wiederum auf zwei umstrittene Amerikaner, Richard Herrnstein und den schon zitierten Charles Murray, die 1994 zum Entzücken rechter Republikaner die mindere Intelligenz der Schwarzafrikaner meinten bewiesen zu haben. Der Deutsche Weiss errechnet für die Roma einen "mittleren Intelligenzquotienten" von 85 - Minderbegabung an der Grenze zur Debilität also. Der Mühe, auch nur ein Roma-Kind auf seine Intelligenz zu testen, hat Weiss sich gar nicht erst unterzogen. Auf die Zahl kommt er vielmehr indirekt. Viele Roma gehen auf Sonderschulen, wenige auf die Universität. Man nehme also den Durchschnitts-IQ von Sonderschülern und den von Studenten und lege ihn auf den Roma-Anteil in beiden Schulformen um. So kommt man auf 85 - ein Ge dankengang, der für einen Intelligenzforscher als ungewöhnlich gelten muss.

Dass Roma-Kindern eben ungeachtet ihrer wirklichen Intelligenz pauschal Dummheit unterstellt wird und dass ihre Eltern sich gegen die Klassifizierung vielleicht gar nicht wehren können oder dass man Kinder auch aus anderen Gründen als wegen ihrer niedrigen Intelligenz auf Sonderschulen schicken könnte, das alles kommt dem Forscher überhaupt nicht in den Sinn. Trotzdem erfreuen sich die Konstruktionen großer Beliebtheit. Ein noch etwas gröberes Muster hat der tschechische Forscher Petr Bakalár popularisiert: Obwohl von der "Rasse" her "europid", habe sich unter den Roma eine "negroide" Selektion der Gene entwickelt, die zu niedriger Intelligenz führe.

Pauschale Unterstellung

Manche Forscher geben sich zur Untermauerung ihrer These von der Dummheit der Roma mehr Mühe; wenn auch wohl nicht genug. Ein Team aus kanadischen und serbischen Wissenschaftern testete wirklich 323 Roma in drei verschiedenen Siedlungen in Serbien auf ihre Intelligenz und kam auf einen Durchschnitts-IQ von 70. Aussagekräftig im Sinne der Volkmar-Weiss-Anhänger wäre das Ergebnis allerdings nur, wenn die Forscher eine ethnisch-serbische Vergleichsgruppe mit ähnlicher Bildung, ähnlichem Einkommen und ähnlicher Wohnsituation gefunden hätten. Auch sonst ist ihre Studie nicht frei von Absurditäten: So werden die serbischen Roma aus genetischen Gründen zu den "Südasiaten" gerechnet, und die Autoren schreiben, die Roma hätten sich seit ihrer Ankunft in Europa "mit eingeborenen Europäern meistens nicht vermischt" - eine kühne Behauptung, die gerade von genetischen Studien widerlegt wird. Sie wollen auch sicher nur die reine Intelligenz getestet haben, sonst nichts: Auf "kulturelle Effekte" fanden sie "keinen Hinweis".

Dabei springen diese kulturellen Effekte schon dem Laien ins Auge. Drei von vier zitierten Fragekomplexen sind rein sprachlich: die Definition von Substantiven, die Suche nach gegensätzlichen Adjektiven, der Test auf das Sprachgedächtnis. Wie und wie viel die Getesteten überhaupt mit Sprache umgehen, und mit welcher Sprache, gibt den Forschern nicht zu denken. Beim Zeichentest bleibt unberücksichtigt, ob die Probanden mit Papier und Stift je zu tun hatten. Wer kulturelle oder soziale Besonderheiten von "reiner" Intelligenz unterscheiden will, muss schon etwas mehr Fantasie entwickeln. In einem slowakischen Test sollten Roma-Kinder zum Beispiel eine Vase zusammensetzen. Dass Kinder, die keine Vase im Haus und möglicherweise nie eine gesehen haben, dabei benachteiligt sein könnten, kam den Psychologen nicht in den Sinn. Dabei ist die Problematik solcher Tests der Wissenschaft sehr wohl bekannt. Sie produzieren sogenannte "scheinbar zurückgebliebene" (pseudo-retarded) Kinder, die außerhalb des Tests keinerlei Schwierigkeiten haben, ihren Alltag zu bewältigen.

Testsituationen

Natürlich bemühen sich Forscher, die ganzen Völkern und Bevölkerungsgruppen Dummheit nachweisen wollen, um kulturbereinigte Tests, die bei allen Menschen auf der Welt unabhängig von ihrer Lebenssituation gleich aussagekräftig sein sollen. Aber den wichtigsten kulturellen Effekt kann auch der beste Test nicht ausschalten: Wer Testsituationen kennt, zum Beispiel aus der Schule, geht anders mit ihnen um.

Wer so etwas nicht kennt, stellt sich nicht so gut darauf ein, zeigt weniger Interesse, ist ängstlicher, arbeitet weniger effizient und gibt schneller auf. Das ficht die interessierten Intelligenzforscher nicht an. Im Bestreben, das Einkommens- und Entwicklungsgefälle auf der weiten Welt auf angeblich ererbte Intelligenzunterschiede zurückzuführen, zeichnen sie inzwischen ganze "Weltkarten der Intelligenz", auf denen der Grips in Ostasien, die Dummheit dagegen in Afrika zu Hause ist. Westeuropa und die USA liegen danach nur deshalb nicht an der Weltspitze, weil sie so viele dumme Einwanderer ins Land gelassen haben.

Der Teufel steckt bei solchen verblüffenden Forschungsergebnissen allerdings im Detail. So wunderten sich Wissenschafter darüber, wie mühelos vierjährige Kinder in China mit dreistelligen Zahlen hantieren, während bei gleichaltrigen Europäern spätestens bei der Zahl Fünfzig Schluss ist - bis sie darauf kamen, dass Zahlwörter im Chinesischen viel leichter zu bilden sind als in den indoeuropäischen Sprachen.

Was Intelligenz eigentlich ist, gerät gar nicht ins Blickfeld der Forscher; sie tun so, als handele es sich um eine objektive Größe, die man wie die weißen Blutkörperchen unter dem Mikroskop zählen kann und die von Bildung, Stimulation und den Erfordernissen der Lebensumwelt ganz unabhängig wäre. Intelligenz ist aber die Fähigkeit, mit Problemen fertigzuwerden, und Probleme kann man sehr verschiedene haben, je nachdem, wie und wo man lebt. Würde man zehn Franzosen und zehn Mauretanier in die Wüste Wasser suchen schicken, sähen die Franzosen wahrscheinlich ziemlich dumm aus. Für die Mauretanier aber wäre es ein passabler Intelligenztest. (DER STANDARD, Album, 21./22.7.2012)