"Die Mainstrem-Medien setzen sich auf ein populäres Thema wie ein Heuschrecken-Schwarm und fressen das Thema kahl. Dann fliegen sie weiter zu einem neuen angesagten Thema": Michael Haller.

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Michael Haller ist emeritierter Professor für Journalistik und leitet das Institut für praktische Journalismus- und Kommunikationsforschung in Leipzig. Im daStandard-Interview erklärt er, wie der ehemalige Deutsche-Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin mit seinen medialen Auftritten und eugenischen Thesen die Atmosphäre vergiftet hat. Sarrazin artikuliere die Ängste des Kleinbürgertums, und die Mainstream-Medien nähmen diese dankbar auf, so Haller.

daStandard.at: Welche Rolle haben die Medien in der Debatte um Sarrazins Thesen gespielt?

Haller: Die Mainstream-Medien fanden das hip, dass einer auftritt und sagt, Deutschland wird immer dümmer. Denn dies entsprach dem Empfinden des Kleinbürgers, der über die aus der Türkei stammenden Nachbarn links und rechts verstört war. Und der sich empörte, dass diese Nachbarn kein Deutsch sprechen.

Man muss fairerweise aber auch sagen, dass es ganz wenige Publizisten gab, die Sarrazin durchschaut haben und kritisch analysiert haben, wie er argumentiert. Einer davon war Frank Schirrmacher von der "FAZ". Der hat damals erkannt, dass hier latent rassistisch argumentiert wird und Sarrazin sich auf dubiose Quellen bezieht. Aber nicht einmal die "Zeit", die für sich in Anspruch nimmt, ein analytisches Medium zu sein, das sehr klug reflektiert und den Geist der Moderne pflegt, hat eine vergleichbare Analyse vorgelegt.

daStandard.at: Waren die Medien froh über ein neues populistisches Thema?

Haller: Sarrazin hat sich sehr geschickt inszeniert mit zugespitzten, provozierenden Thesen: dass das gesamte Schulsystem an der Last der bildungsunfähigen neuen Unterschicht zerbrechen werde. Damit hat er dem Besitzstandsdenken vieler Kleinbürger Vorschub geleistet.

daStandard.at: Warum half Sarrazin dem Besitzstandsdenken?

Haller: Man muss bedenken, dass kurz zuvor Studien wie PISA oder über die wachsende Gewaltbereitschaft Jugendlicher Schlagzeilen machten. Viele Leute waren damals schockiert und enttäuscht, dass die Multikulti-Gesellschaft nicht so einfach zu machen ist. Und dass ausgerechnet deutsche Schulen so schlechte PISA-Ergebnisse produzieren. Dass Kinder schlechter lesen und schreiben als der europäische Durchschnitt, und das im Land der Dichter und Denker!

Da war es doch sehr praktisch, dass jemand mit scheinbar wissenschaftlichen Nachweisen behauptete, dass daran diese Muslime schuld seien. Sarrazin lieferte also diese sehr populistische These, dass das Bildungsniveau sinken und die künftige Erwachsenenbevölkerung mehr und mehr verdummen werde. Und dass nicht das Bildungssystem schuld sei, sondern die hohen Prozentanteile an ausländischen Mitbürgern, deren Kinder nichts lernen und das Bildungsniveau abwärts drücken.

daStandard.at: Warum war und ist Sarrazin immer noch gern gesehener Gast in Talkshows?

Haller: Die Mainstrem-Medien setzen sich auf ein populäres Thema wie ein Heuschrecken-Schwarm und fressen das Thema kahl. Dann fliegen sie weiter zu einem neuen angesagten Thema. Diesen Medien geht es nicht um Aufklärung, sondern um das Spektakel. Die Bildungsmisere war ein spektakuläres Thema, das man ein halbes Jahr durchspielen konnte. Sarrazin genoss ja enorme Popularität und bekam prominente Unterstützung.

Der kulturelle Schaden ist groß. Denn seine Auftritte hatten eine desintegrative Wirkung. Er hat das Meinungsklima insbesondere in Großstädten vergiftet. Diejenigen, die schon immer ein latentes Vorurteil gegenüber dem Nichtdeutschen hatten, die fühlten sich bestätigt. Das macht es der Politik in den Stadtparlamenten und Bundesländern heute schwerer, Programme umzusetzen, die den Integrationsprozess stärken.

daStandard.at: Warum haben Sie sich entschieden, ein Buch herauszugeben, das sich mit den Denkfehlern der eugenischen Rassentheorie, die ja Sarrazin mit seinem Buch reaktiviert hat, beschäftigt?

Haller: Wir wollten mit dem Buch dem Denken Sarrazins und seiner Anhänger auf den Grund gehen. Es ist fatal, wenn ideologische Thesen, die latent rassistisch sind - wie Sarrazins These, dass Intelligenz größtenteils vererbt werde -, nicht aufgedeckt und durchleuchtet werden. Wir dachten: Das kann doch nicht sein, dass diese Ideologie so unwidersprochen in das kollektive Gedächtnis einsickern kann. Tatsächlich hatte die Öffentlichkeit die eugenischen Thesen von Sarrazin ausgeblendet; die Eugenik-Debatte wurde gar nicht geführt.

daStandard.at: Und heute? Wie sieht es mit der Rezeption Ihres Sammelbands in den Medien aus?

Haller: Die analytisch-kritische Auseinandersetzung, die wir mit dem Buch angestoßen haben, sickert zunächst einmal in die Internet-Community ein. Wir sehen, dass verschiedene Blogs das Thema aufgreifen und das Buch entdecken. In den Redaktionen der Massenmedien gibt es indessen wenig Bereitschaft, begangene Kopflosigkeiten selbstkritisch zu reflektieren. Die einzige namhafte Zeitung, die sich mit dem Buch durchaus selbstkritisch beschäftigt hat, war die "Frankfurter Rundschau". Für die Mainstream-Medien aber ist Sarrazin der Schnee von gestern. Der Heuschreckenschwarm ist längst weitergeflogen und der kehrt nicht zurück, weil er alles kahl gefressen hat. (Güler Alkan, daStandard.at, 30.7.2012)