Klagenfurt - Mit zwei Autorinnen aus Deutschland wurde Freitag früh der Wettstreit um die Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises in Klagenfurt fortgesetzt. Den Anfang machte Ulla Lenze mit einem Romanauszug, danach spaltete Sünje Lewejohanns Erzählung "Im Farnschatten" die Jury in zwei Lager. Während einige Juroren den Text völlig ablehnten, erntete die Autorin von anderen viel Lob.

"Brüderchen und Schwesterchen"

"Schwester und Bruder" von Ulla Lenze ist ein Romanauszug, in dem ein Geschwisterpaar aus Deutschland in Indien unterwegs ist. Der Bruder ist blind und sucht nach einem Guru, der ihn heilen könnte. Die beiden werden von einem indischen Chauffeur gefahren, der sich als veritabler Philosoph erweist.

Juryvorsitzende Iris Radisch fühlte sich an das Märchen von "Brüderchen und Schwesterchen" erinnert, Indien bleibe, so ihr Einwand, allerdings eine Randerscheinung. Thomas Steinfeld konstatierte eine handwerklich saubere Arbeit, von der er sich allerdings nicht angesprochen fühlte. Josef Haslinger wiederum bemängelte, dass die Erzählungen des Chauffeurs in indirekter Rede gehalten seien, was einen Widerspruch zum verwendeten Präsens darstelle. Doch sei er "dem Text sehr gerne gefolgt", die Geschwisterbeziehung sei sehr zart und geheimnisvoll gehalten, diesem Geheimnis würde man gerne folgen.

"Ich habe das nicht erwartet"

Wesentlich divergenter beurteilten die Juroren "Im Farnschatten", Sünje Lewejohanns Geschichte von einem Mädchen mit "Glasknochen" und einer Zwillingsschwester sowie einem Liebhaber und einem Selbstmord. Ursula März meinte, das Material sei dünn, dafür sehr gestreckt. Iris Radisch sei "eigentlich böse", der Text sei poetisch, die Poesie jedoch abgeschmackt. Thomas Steinfeld wiederum kritisierte, dass zu viele "Katastrophen" in die wenigen Seiten der Erzählung gepackt seien.

Josef Haslinger, der die Autorin ausgewählt hatte, meinte, er sei überrascht über die Art der Reaktionen. "Ich habe das nicht erwartet", meinte er, worauf das Publikum im ORF-Theater heftig applaudierte. Er sei weiterhin von dem Text überzeugt, so Haslinger. Denn er sei als Leser jedes Mal dankbar, wenn es einen Autor gebe, der einen eigenen Ton habe, und dies sei bei Sünje Lewejohann der Fall. Natürlich könne man den Ton analysieren, kritisieren, aber es gebe ihn. Vielleicht, so gab Haslinger zu bedenken, habe er auch deshalb eine Schwäche für die Geschichte, weil er selbst Vater von Zwillingen sei.

"Etüde"

Auch Friederike Kretzen lobte den Text, schlug der Autorin jedoch vor, "noch radikaler" zu werden, auf Elemente wie Tod und vielleicht auch die Glasknochen zu verzichten. Daniela Strigl wandte ein: "Ich weiß nicht, was die Geschichte täte, nähme man ihr das Thema weg."

Burkhard Spinnen bezeichnete die Erzählung als Etüde. Innerhalb der strengen formalen Grenzen einer Etüde sei der Text gelungen, für eine Symphonie würde es allerdings nicht reichen. Norbert Miller meinte, es sei ein streng in sich komponierter Text, insofern sei der Vergleich mit einer Etüde zulässig. Allerdings gebe es durchaus auch Etüden, die von hoher Qualität seien. Die Elemente der Erzählung seien "erstaunlich gut gefügt". Ilma Rakusa sagte über die Autorin: "Ich spüre, dass sie eine Lyrikerin ist."

Erster Favorit

Mit Feridun Zaimoglu kristallisierte sich dann erstmals ein Favorit für die Vergabe des Bachmannpreises heraus. Seine archaische Erzählung "Häute" erntete praktisch von allen Juroren viel Lob. Nach ihm las Lukas Hammerstein "Die hundertzwanzig Tage von Berlin".

Zaimoglu lässt seinen Protagonisten einen Besuch in einem Dorf machen, wo in einem Antiquitätenladen seltsame Dinge wie alte Hochzeitslaken samt Blutfleckresten von der Entjungferung zum Verkauf geboten werden. Ihm wird dann auch eine 14-Jährige als Ehefrau angeboten, zuletzt muss er aber froh sein, mit heiler Haut wieder aus dem Dorf heraus zu kommen.

"Glänzender Erzähler"

Iris Radisch war von der Erzählung "sehr überzeugt". Ursula März meinte, die Geschichte glänze durch einen enormen Sprach- und Farbreichtum. Auch Thomas Steinfeld schloss sich den Lobeshymnen an. "Es ist beeindruckend, wie ganz ohne Schwulst ein neuer Erzählraum geöffnet wird." Steinfeld fühlte sich an Alfred Kubins "Die andere Seite" erinnert. Ilma Rakusa hob wie Josef Haslinger die Stimmigkeit der Geschichte hervor, der große Sprachreichtum sei jedoch ihrer Ansicht nach nicht zu finden.

Norbert Miller lobte Zaimoglu als "glänzenden Erzähler", der dem Text einen großen Reichtum an Motiven verliehen hätte. Daniela Strigl gab sich lediglich ein wenig irritiert von der Archaisierung der Geschichte, was sie ein wenig an die Welten Karl Mays erinnere.

Interesse geweckt

Lukas Hammersteins Text, ein Auszug aus einem langen Text, ist zum einen eine Liebesgeschichte, zum anderen eine Art Zustandsbeschreibung der Gegenwart in Berlin, die Thomas Steinfeld als zu sehr in Richtung Popliteratur, mit zu viel "Trendberichtsessay"-Elementen garniert bezeichnete. Für Iris Radisch sei man mit dieser Prosa "in der Wirklichkeit", sie deutete den Text als Endzeit-Literatur mit Figuren, die Zwischenexistenz simulierten.

Josef Haslinger meinte, er habe bis dato noch nichts von Hammerstein gelesen, werde nach den Tagen der deutschsprachigen Literatur dies nachholen und "alle Ihre Bücher kaufen".

Negative Aufnahme

Ilma Rakusa kritisierte die designte Prosa, die sie als "aalglatt" bezeichnete. Ursula März sah den Text als "Versuch über die neunziger Jahre", allerdings gebe es Trends zur Verallgemeinerung. Daniela Strigl stieß sich an der zu weitschweifigen Darstellung einer "hedonistischen Euphorie". Norbert Miller lehnte den Text ab, begründete dies unter anderem mit seinem höheren Alter: "Ich habe den Text überhaupt nicht gemocht, und zwar aus den gleichen Gründen, warum ihn Haslinger gemocht hat."

Es sei ein virtuos gemachter Text, der mit einer Vielzahl von Erzählsituationen spiele. Doch lasse er sich aus jeder Perspektive, wie auch immer man an ihn herangehe, interpretieren. Es sei eine Beschreibung eines Trends und keine Analyse. Der Hinweis auf die 120 Tage von Sodom setze einen Abgrund voraus, doch dieser sei nicht zu finden. Die Virtuosität des Textes sichere sich die Beliebigkeit der Aussage. (APA)