Andreas Gloistein: "Überlasst diese Entscheidung euren Söhnen!"

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Ariel Muzicant, Ehrenpräsident der Israelitischen Kultusgemeinde, findet starke Worte für die aktuelle Beschneidungsdebatte: Sie sei dem Versuch einer neuerlichen Schoah, einer Vernichtung des jüdischen Volkes, gleichzusetzen. Eine geistige Vertreibung von Juden und Muslimen ortet Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde. Er werde gegen jeden, der Beschneidungen verbieten will, vorgehen. Auch mit Anzeigen wegen Wiederbetätigung, denn für ihn ist klar, dass die aktuelle Debatte natürlich Antisemitismus als Auslöser hat. Durch ein Verbot von Beschneidungen würde es Juden und Muslimen in Österreich verboten, hier zu leben.

Und damit ist klar: Beschnitten wird hier vor allem die Meinungsfreiheit. Eine im Ursprung klare Fragestellung, nämlich ob es noch zeitgemäß und mit unseren geltenden Rechten überhaupt weiterhin vereinbar ist, unmündige Buben aus religiösen Traditionen heraus zu beschneiden, wird im Keim erstickt, indem man die Fragenden ins antisemitische Eck schiebt und ihnen wortgewaltig die neuerliche Vernichtung ganzer Volksgruppen unterstellt. So wird das Thema in eine polemische Richtung gelenkt, in der eine weitere Auseinandersetzung auf Sachebene kaum noch möglich ist.

Was nicht sein darf, kann nicht sein

Dabei ist den Hardlinern durchaus klar, dass sich hier kein neuer Widerstand gegen Judentum und Muslime formt: Die Stimmen, die in ihren eigenen Reihen schon längst kritisch hinterfragen, bekommen plötzlich breites Medieninteresse und Zuspruch von Juristen. Doch was nicht sein darf, kann nicht sein: Seit Jahrtausenden wird diese Tradition gepflegt, und daran darf nicht gerüttelt werden! Dabei zeigt die Geschichte, dass sich Religionen zum Gutteil geirrt haben, Traditionen falsch und grausam waren. Oder ist die Erde doch der Mittelpunkt des Universums? Waren Hexenprozesse und Inquisition gut und richtig? Sind moderne Medizin und Wissenschaft Ketzerei?

Es sollte uns erlaubt sein zu hinterfragen, zu kritisieren, neue Wege und Sichtweisen zu debattieren, ohne mit Holocaust und Völkermord in einen Topf geworfen zu werfen. Christen, Juden und Muslime müssen akzeptieren lernen, dass ihre Religionen dem gleichen Wandel der Zeit unterliegen, sich mit denselben Problemen auseinandersetzen müssen und dass die Jungen neue Perspektiven, zeitgemäße Lösungen und Kompromisse brauchen. Die katholische Kirche hat das Fegefeuer abgeschafft - warum fällt es Juden und Muslimen so schwer, ihre Buben selbst bestimmen zu lassen?

Tradition und modernes Unrechtsbewusstsein

Die Zirkumzision als integraler Bestandteil von Religion und Tradition ist völlig legitim. Auch darf und soll nicht am Recht der Eltern gerüttelt werden, ihre Kinder im Sinne ihrer Religion zu erziehen und zu prägen, auf deren Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Urbane Gesellschaften brauchen diese kulturellen Unterschiede; sie sind der Motor einer liberalen, pluralistischen Demokratie. Sind wir aber bereit zu akzeptieren, dass das Recht auf freie Religionsausübung nicht über dem Recht auf körperliche Unversehrtheit steht, müssen wir gemeinsam und vorurteilsfrei neue Wege suchen, Tradition und modernes Unrechtsbewusstsein zu vereinen.

Die Beschneidung Unmündiger lässt sich nicht von heute auf morgen abschaffen. Und ich möchte die Gegner mit Nachdruck vor allzu großer Sturheit warnen. Nicht dass wir am Ende eine Situation schaffen, die denen, die wir vorgeblich zu schützen suchen, mehr schadet als nützt. Ein Verbot muss wohldurchdacht sein: Die Altersgrenze sollte sich in einem Rahmen bewegen, in dem es den Eltern noch möglich ist, Einfluss auf den Buben zu nehmen. Die Volljährigkeit als Grenze nimmt den Eltern diese Möglichkeit - und damit zumindest indirekt tatsächlich das Recht auf freie Religionsausübung.

Das Kölner Urteil

Ob ich also im Kölner Urteil die Lösung sehe? Keineswegs. Ich wünsche mir aber von den Religionsvertretern und Kirchenoberhäuptern, dass sie die Diskussion zulassen, sich der Aufgabe stellen, eine neue, zeitgemäße Lösung zu finden. Indem der Debatte antisemitische, völkervertreibende, gar völkervernichtende Absichten unterstellt werden, wird nur der Zorn und das Unverständnis jener geschürt, die nichts von all dem im Sinne haben.

Was qualifiziert mich zu diesem Beitrag?

Was qualifiziert mich zu diesem Beitrag? Die Tatsache, dass ich ein interessanter Mischling bin: deutsche Mutter jüdischer Herkunft, türkischer Vater (und strenger Moslem), protestantisch erzogen und infolge freier Entscheidung konfessionslos und unbeschnitten. Geboren in Wien und österreichischer Staatsbürger.

Die Diskussion um die rituelle Beschneidung regt mein Gemüt deshalb so besonders, weil sie nicht Bestandteil des Korans ist. Nicht die Lehre Mohammeds zwingt Muslime zur Beschneidung, sondern der gesellschaftliche Druck. Mit einer der Gründe, weshalb mein Vater seine Heimat verlassen hat und nach Österreich ausgewandert ist. Er hat den Koran gelesen und die Lügen erkannt, die zwischen dem geschriebenen und dem gepredigten Wort stehen.

Mitunter nichts anderes als eine Mutprobe

Ein Umstand, der von den Befürwortern gerne verschwiegen wird: Im überwiegenden Teil jener Länder, die rituelle Beschneidungen durchführen, sind die hygienischen Bedingungen katastrophal; die Sterberate weitaus höher, als die offiziellen Zahlen belegen. In den letzten Dörfern, die oft nicht einmal eine Erwähnung auf den Landkarten finden, wo Zivilisation und Fernsehen noch nicht angekommen sind (weil häufig selbst der Strom dazu fehlt), vertreten die Gläubigen die Meinung, dass ein Junge, der an der Beschneidung stirbt, ohnehin zu schwach zum Leben gewesen wäre. Die Beschneidung ist hier weniger ein Ritual, als eine aufgezwungene Mutprobe.

Ich möchte Juden und Muslimen ihre Beschneidung nicht nehmen, aber ich wünsche mir, dass sie es meinem Vater gleichtun: Überlasst diese Entscheidung euren Söhnen! Nicht die Beschneidung macht sie zu echten Juden, zu echten Muslimen. Sondern die Werte, die ihr sie lehrt! (Andreas Gloistein, Leserkommentar, derStandard.at, 2.8.2012)