"Dummheit ist nicht meine Stärke." Kaum ist je kühner zum Sprung mitten in die moderne Prosaliteratur angesetzt worden als im Erstlingswerk Der Abend mit Monsieur Teste des 24-jährigen Paul Valéry. Hat je ein schriftstellerischer Heißsporn seine Vermessenheit ernsthafter abgebüßt als Valéry mit seiner darauf folgenden fast 20-jährigen Schreib lähmung? Mit dem lebenslang andauernden Fortschreiben seines "Monsieur Teste"?

Als "Ideenungeheuer" hat der Autor später seine cartesianische Vivisektion am eigenen Geist bezeichnet, mit der er, wie nach ihm Musil, nichts weniger als den "Dämon der Möglichkeit selbst" zu bannen suchte. Indes fiel Valérys Denken nach dem Ersten Weltkrieg nicht wie bei Teilen der deutschen Intelligenzija in Irrationalismus und versponnene Gegenaufklärung zurück: Es hatte sich in den solipsistischen Mysterien des Monsieur Teste bereits literarisch ausgetobt.

Tatsächlich wurde Paul Valéry, der formstrenge Dichter, seit den frühen 20er-Jahren auch zum führenden kulturpolitischen Essayisten Frankreichs. Beharrlich warnte er vor dem "Abgrund der Geschichte" und ihren von greifbaren ideologischen Absichten gelenkten Deutern. "Die Geschichte rechtfertigt, was immer man will. Sie lehrt schlechterdings nichts, denn es gibt nichts, was sich nicht mit ihr belegen ließe."

Die Skepsis gegenüber dem Explosionsstoff Geschichte bildet jenes Grundmotiv in Valérys politischen und zeitkritischen Schriften, das den heutigen Leser angesichts unverhohlen chauvinistisch-volksverhetzender Zündelei in etlichen europäischen Ländern ganz unmittelbar anspricht. Als Repräsentant des französischen Geistes ist Valéry, der seine herausragende Stellung in der Literatur seines Landes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ebensolch gravitätischem Gestus zu behaupten wusste wie Thomas Mann in der deutschen, heute zu Unrecht halbvergessen.

51 Jahre lang hat Valéry in seinen Cahiers allmorgendlich seine Gedanken zu Papier gebracht, und diese unüberschaubare Sammlung von Einfällen, Bemerkungen, Erläuterungen, Aphorismen und Kurzessays bildet das Bergwerk dieses Mineurs anspruchsvollen Denkens in seiner Zeit. Das hervorstechende Merkmal seines Aufstand des Geistes ist: eisgekühlte Distanz. Sie beschert dem Leser vor allem seiner scharf geschliffenen Essays ein überzeitliches Denkvergnügen.

Bestürzend sind seine Einsichten zur Moderne, zu ihrem Zeit- und Ressourcenverschleiß. Valéry klagt die Allmacht des immer Neuen und der puren Gegenwart an, wie sie die Moderne kennzeichnet: "Wir ertragen keine Dauer mehr ... Unsere Natur hat einen Horror vor der Leere - jener Leere, in die die Geister von ehedem ihre Ideale einzuzeichnen verstanden." Die schonungslose Ausbeutung von Zeit zieht die irrever sible Plünderung der natürlichen Energievorräte nach sich und fördert jenes Anspruchsdenken, dem der "zentralste Sinn" mangelt: der innere Sinn "für den Abstand zwischen Begehren und Besitzen eines Gegenstandes, der nichts anderes ist als der Sinn für Dauer, das Empfinden für Zeit".

Fatale Entwicklungen

Da auch im Politischen diese besitzgierige Gefräßigkeit die Werte von Weitsicht und dauerhafter Strategie verdrängt hat, zeigt sich die Staatskunst "auf das Erfinden von Notbehelfen beschränkt". Lang vor Günther Anders' Antiquiertheit des Menschen benennt Valéry die fatale Entwicklung einer Politik, die "auch immer stärker eine gegen sich selbst gerichtete Teilung des Individuums und der Zivilisation verlangt". Das bittere Diktum Valérys, wonach Politik die Kunst sein kann, "die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht", ist in der absurden Logik einer zum Verkaufsgeschäft verkommenen Staatskunst begründet.

Tatsächlich hat der Denkspieler Valéry Anfang der 30er-Jahre, als Vorwort zu einem Band über den portugiesischen Diktator Salazar, Die Idee der Diktatur, mit teuflischer Konsequenz als Verlockung des Geistes dargestellt, Alleinherrscher zu sein: "Er bleibt als alleiniger freier Wille übrig, als alleiniges integrales Denken, er allein bleibt im Vollbesitz des Handelns ... gegenüber einer ungeheuren Zahl von Einzelmenschen, die - ungeachtet ihres persönlichen Werts - auf die Existenzweise eines Mittels oder Stoffs reduziert werden ..." Mit dieser Warnung schließt dieser gefährlich autoritätsanfällige Ausflug Valérys.

Valéry entwarf in seinen zeitkritischen Essays und Vorträgen eine Dialektik der Moderne, die den Januskopf der Aufklärung scharf skizzierte: Bereits 1935 prägte er den Warnbegriff eines "Wachstums ohne Grenzen": "Wir haben das Universum nicht zu erklären - sondern es auszubeuten." Es sind die Widersprüche des 20. Jahrhunderts, die sich in diesem vom lateinisch-unromantischen Denken geprägten Cartesianer verkörpern. Am nachhaltigsten überlebt haben Valérys denkwürdige Auseinandersetzungen um die geistige Gestalt Europas, die sich ihm nach dem Schock des Ersten Weltkriegs aufdrängten. Es geht ihm um das geistige Europa als das seit Jahrhunderten nach dem griechischen Ideal des "vollkommenen Menschen" entwickelte Projekt, das sich dadurch auszeichnete, "dass in allen gebildeten Köpfen die einander unähnlichsten Gedanken, die einander entgegengesetztesten Lebens- und Erkenntnisprinzipien ungehindert nebeneinander lebten. Das ist es, was ein modernes Zeitalter kennzeichnet." Diesen schöpferischen Antagonismus sieht Valéry als Europas Erbschaft, die im Vertrauen auf die Ungleichheit vermehrt gehört, um den Frieden zu erhalten.

In den 1920er-Jahren, als Valéry zum "Statthalter des europäischen Geistes" (Peter Hamm) avancierte, trieb ihn die Sorge um, wie erbärmlich die Politik hinter diesem programmatischen Anspruch der europäischen Idee zurückblieb: "Europa wird die Strafe empfangen für seine Politik ... Europa legt es sichtlich darauf an, von einer amerikanischen Kommission regiert zu werden. Seine ganze Politik geht dahin." Unaufhörlich forderte er auf seinen Vortragsreisen (in Wien im Oktober 1926) jene Politik des Geistes, die das "positive Kapital" der selbstverständlichen supranationalen Wissenschaften Europas seit dem 16. Jahrhundert ebenbürtig in der Politik vermehre. In einer jener Ansprachen - vom Februar 1928 an der Pariser Sorbonne - beklagte er "den einzigartigen, ja fast skandalösen Abstand ..., der zwischen dem europäischen Geist - als er sich der Erforschung der Naturgesetze zuwandte - und dem Zustand des europäischen Geistes in politischen Dingen andererseits besteht".

Noch ein Jahr vor seinem Tod am 20. Juli 1945 beschwor Valéry den "jungen Europäer", jeglichen Rassismus zu verwerfen und dem europäischen Geist zu folgen, den er als "die erstaunliche Fähigkeit zum Aushalten von Widersprüchen" definierte: "Ich glaube, dass die Zusammendrängung von Menschen verschiedener Rassen ... diese Individuen gezwungen hat, mit ihren einander ergänzenden Eigenschaften ... sich gegenseitig zu beeinflussen, sich zu verstehen. In Sachen Antrieb zur Intelligenz ist Unreinheit fruchtbarer als Reinheit, verdankt sich Reichtum der Vermischung des Ungleichen ... Der europäische Intellekt hat mithin eine Verbindung zu schaffen vermocht zwischen Traum und strenger Methodik, zwischen freier Fantasie und genauer Beobachtung des Wirklichen."

"Ist Geist ein Luxus?", fragte Valéry - nicht von ungefähr 1937 - bang. Wir haben heute, ein Dreivierteljahrhundert europäischer Geschichte später, keinen Anlass, anders als kleinmütig zu antworten. Bei Valéry heißt es: "Und dennoch gilt es zu handeln, als sei die Hoffnung heil; und wir haben handeln wollen, als sei ... man eines Tages so weit gekommen, vonseiten der Politik im einzelnen Menschen nicht mehr nur einen Produzenten, einen Konsumenten, einen Steuerzahler, ein Werkzeug oder einen Wähler zu sehen, sondern jemanden: ... als sei man ... eines Tages so weit gekommen, Gedanken nicht mehr nur dann als Kräfte zu betrachten, wenn sie nur für partikulare Zwecke einsetzbar sind oder wenn sie gefährlich erscheinen. Man weiß sie zu erregen und anzustacheln, wenn man der Meinung ist, sie seien als Machtmittel verwendbar, man weiß sie zu ersticken, wenn man fürchtet, sie könnten Schaden anrichten."

Hat uns Valérys selbstgewisser Monsieur Teste vor mehr als hundert Jahren überholt? Ist Dummheit doch unsere Stärke? Vom cartesianisch klaren europäischen Geist in seiner verbindlichen Bewusstseinsstruktur sind wir nicht in jenem Maß angezogen, wie es die Zukunft verlangt.

Valéry wäre darüber, wenn auch enttäuscht, gewiss nicht verwundert gewesen, wusste er doch, was auch Walter Benjamin mit seinem Bild des Engels zeigte, der schreckgebannt vor der Vergangenheit zurückweicht: "Wir gehen rückwärts in die Zukunft." ( Oliver vom Hove, Album, 4./5.8.2012)