Reagieren statt explodieren: Therapeutin Helga Kernstock-Redl hat die Gefühle im Griff.

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STANDARD: Wann haben Sie sich zuletzt geärgert?

Kernstock-Redl: (lacht) Jetzt gerade über diese Frage. Aber im Ernst: Ärger ist mir total wichtig. Er zeigt mir meistens an, dass hier jemand eine meiner Grenzen überschreitet. Oder er zeigt mir ein Hindernis auf dem Weg zu einem wichtigen Ziel. Der biologische Sinn von Ärger ist es, uns mit Kraft zu versorgen: um unsere Grenzen zu schützen oder Ziele zu erreichen.

STANDARD: Selbst Sie als Emotionsexpertin sind also offensichtlich nicht davor gefeit, manchmal so richtig auszuzucken?

Kernstock-Redl: Ich selbst bin hier ganz und gar nicht perfekt, aber zwischen "leichtem Ärger" und "Auszucken" gibt es einige Zwischenstufen. Ich finde Auszucker extrem anstrengend, für mich - schon rein körperlich - und für die anderen. Echtes "Rotsehen" ist außerdem nicht mehr kontrollierbar und hat oft verheerende Folgen. Deshalb arbeite ich daran, so eine "Explosion" möglichst nicht zu haben, weil ich frühzeitig reagiere. Ich bemühe mich, unnötigen Ärger, etwa beim Autofahren, zu vermeiden.

STANDARD: Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die "Emotionsregulation" - wie funktioniert das?

Kernstock-Redl: Gefühlsmanagement funktioniert in vier Phasen. Am Beginn steht das Erkennen - möglichst rechtzeitig und möglichst das echte oder primäre Gefühl hinter dem gezeigten. Dann das Verstehen: Was will es mir sagen, woher kommt es, was ist sein Ziel? Es folgt das Akzeptieren und Würdigen: eine Atempause machen. Einen Punkt. Zuletzt das Verändern, Regulieren oder Nutzen. Es gibt immer mindestens zwei sinnvolle Reaktionen. Ein Auszucken nicht mitgerechnet.

STANDARD: Welche Leute kommen zu Ihnen - typische Choleriker? Oder auch Menschen, denen man ihre innere Wut nicht anmerkt?

Kernstock-Redl: Wer immer erkannt hat, dass er so nicht weitermachen kann oder will. Cholerisches Verhalten kann Beziehungen zerstören. Manche glauben, "Ich bin halt so" und das könne man nicht ändern. Aber das ist weder wahr noch eine Entschuldigung. Nur sehr primitive Tiere sind ihren Gefühlen ganz ausgeliefert. Wir Menschen kommen zwar mit nur wenigen Emotionsregulationsmethoden auf die Welt. Aber wir können beständig unser Repertoire erweitern. Manche glauben, es gebe nur "Explodieren" oder "Runterfressen". Aber nicht reagieren, nichts anmerken lassen ist ziemlich ungesund. Ärgerhormone machen den Körper schließlich kampfbereit.

STANDARD: Wie reagiert man jetzt richtig auf ein Ärgernis?

Kernstock-Redl: Die bekannten Tipps "tief durchatmen" und "bis zehn zählen" können den Ärger so weit reduzieren, dass der Verstand online bleibt, dass also sinnvolle Aktionen möglich sind. Aber solche Folgeaktionen müssen eben dann schon noch sein. Mit Durchatmen ist das Problem selber ja noch nicht gelöst. Es gilt: Sobald ein Ärger als sinnvoll und notwendig bewertet wird, gibt es jede Menge Handlungsalternativen. Das rechtzeitige Darüber-Reden mit den richtigen Worten ("Ich bin, ehrlich gesagt, etwas sauer"), Angebote zur Problemlösung, klare Zeichen der Verteidigung. In jedem Einzelfall gibt es mehrere Möglichkeiten, wovon jene umgesetzt werden kann, die aktuell am besten passt.

STANDARD: Vom "Häferl" zum Lamm - funktioniert so eine Umkehr der Persönlichkeit?

Kernstock-Redl: Ich denke, es gibt Menschen, die empfinden grundsätzlich intensiver als andere. Es gibt auch eine Entwicklung im Alter: Kleinkinder oder Jugendliche sind regelrecht emotionsgebeutelt, mit zunehmendem Alter nimmt es ein wenig ab, und es steigt - hoffentlich - die Kompetenz, damit umzugehen.

STANDARD: Kann also auch der friedlichste Mensch in eine Situation kommen, wo er so richtig narrisch wird?

Kernstock-Redl: Ich behaupte sogar, fast jeder Mensch fühlt sich manchmal so extrem zornig, dass er vielleicht sogar töten könnte. Doch glücklicherweise tun wir das nicht, denn wir haben genug emotionale Kompetenz, uns zu bremsen und andere Lösungen zu finden. Ärger selber ist ja nicht gut oder böse, sondern stellt nur Energie zur Verfügung, wo wir uns gut oder böse verhalten können. Wohldosierter Ärger kann jahrelang Kraft geben, wichtige Dinge zu erreichen. (Markus Rohrhofer, DER STANDARD, 4./5.8.2012)