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Bernd Schilcher.

Foto: AP/Punz

Es ist schon Monate her, dass Michael Spindelegger sein "Unternehmen Österreich 2025" vorgestellt hat. Von mehr als 200 Experten war die Rede, die gänzlich frei arbeiten und letztlich auch solche Ergebnisse vorlegen sollten, "die mir als ÖVP-Chef nicht gefallen". (O-Ton Spindelegger). Das hörte sich neu und mutig an. Tatsächlich ist es ihm gelungen, herausragende Persönlichkeiten zu gewinnen. Alles Leute, die sich mit Sicherheit von keiner Partei sagen lassen, was sie zu denken haben.

Einer von ihnen ist Markus Hengstschläger, der Leiter der Expertengruppe "Bildung und Lernen". Schon das erste Zwischenergebnis seiner Gruppe trägt seine Handschrift. "Unsere Schulen sind derzeit für den Durchschnitt konzipiert", heißt es, "sowohl besonders Begabte wie auch besonders Förderbedürftige fallen aus dem System."

Der Grund: Wir kennen - anders als moderne Bildungsländer - weder die möglichst frühe Feststellung der Talente jedes einzelnen Kindes noch seine durchgehende, individuelle Förderung. Dazu kommt, dass die Lehrerinnen in unserem System mehr als zwei Drittel ihrer Zeit auf die Schwächen der Schülerinnen und Schüler verwenden müssen.

Weil uns individueller Unterricht unbekannt ist, können wir uns auch so schwer vorstellen, dass Schülerinnen und Schüler aus allen Schichten, Kulturen und Religionen nicht nur bis zum 10. Lebensjahr gemeinsam unterrichtet werden, sondern die ganze Pflichtschulzeit hindurch. So wie das in 37 von 48 europäischen Staaten der Fall ist. Überall gibt es gemeinsame Schulen bis zum 14. bzw. 16. Lebensjahr. Darunter: Belgien, Dänemark, England, Estland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Litauen, Malta, Monaco, Nordirland, Norwegen, Polen, Portugal, Schottland, Schweden, Slowenien, Spanien, Südtirol, Wales und Zypern.

Dazu kommen noch Lettland, das ab dem 13. Lebensjahr trennt, Luxemburg und die Niederlande (ab 12) sowie Liechtenstein, die Slowakei und Tschechien (ab 11). Womit nur noch fünf von 48 Ländern übrigbleiben, die nach wie vor auf dem 10. Lebensjahr beharren: Deutschland, Russland, die Schweiz, Österreich und Ungarn. Aber auch dort hat längst ein Aufweichungsprozess eingesetzt. So trennt das Saarland mit 11 Jahren, Berlin, Brandenburg, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern mit 12 und Sachsen demnächst mit 13.

In 18 Schweizer Kantonen wird erst ab dem 12. Lebensjahr getrennt; in drei Kantonen ab dem 11. und nur noch in zwei Kantonen ab 10 wie bei uns. Die Kantone Tessin, Genf und Wallis kennen überhaupt nur eine gemeinsame Schule bis zum 15. bzw. 16. Lebensjahr.

Die Eidgenossen haben sich nämlich überzeugt, dass der Einfluss der sozialen Herkunft der Schulkinder auf ihre Leistungen und Chancen umso geringer ist, je länger sie gemeinsam unterrichtet werden. Ergebnis: Die Schweizer schöpfen weitaus mehr Leistungsträger aus bildungsfernen Schichten und Migrantenfamilien aus als wir. Das schlägt sich nieder: In der Schweiz sind 33 Prozent der 25- bis 64-Jährigen Absolventen einer tertiären Ausbildung, bei uns nur 19 Prozent.

Genau das sieht auch die Gruppe Hengstschläger. Sie kritisiert, dass uns "die Aufteilung von Kindern auf zwei Schultypen im Alter von zehn Jahren so viel Zeit und Energie auf schulischer und politischer Ebene" kostet, dass wir die "potenzialorientierte Leistungsdifferenzierung" sträflich vernachlässigen und daher Begabungen "aus sozial benachteiligten Familien und Jugendlichen mit Migrationshintergrund" verzichten.

Kein Wunder, dass sich Hengstschläger und die meisten seiner Mitarbeiter "grundsätzlich mit den Zielen des Bildungsvolksbegehrens identifizieren können" und daher wie dieses die Parteien aufrufen, "über den eigenen ideologischen Schatten zu springen".

Das ist leichter gesagt als getan. So hat die ÖVP erst kürzlich wieder das alte Gespenst der "Ganztagsschule" als "Zwangstagsschule" reanimiert und sogar versucht, die Südtiroler Schwarzen ob ihrer angeblich "linken" Schulpolitik zu blamieren. Da Landeshauptmann Luis Durnwalder nicht bereit ist, von der über 50 Jahre alten gemeinsamen Schule und Ganztagsschule in seinem Land abzugehen, beantragte das ebenfalls schwarze Nordtirol kürzlich eine Pisa-Sonderauswertung in beiden Ländern. Sie sollte die Überlegenheit unseres differenzierten Halbtagssystems beweisen.

Das war ein Rohrkrepierer. Das Durnwalder-Land war den Platter-Tirolern in allen Pisa-Disziplinen weit überlegen. Rudolf Meraner vom Pädagogischen Institut Bozen begründet diesen Vorsprung wörtlich mit der "gemeinsamen Schule von der ersten bis zur achten Schulstufe" in seinem Land und der vollen Inklusion unterschiedlicher Ethnien wie auch praktisch aller Behinderter (98 Prozent) ohne eine einzige Sonderschule.

Womit sich die Frage erhebt: Was wird Spindelegger mit den Hengstschläger-Ergebnissen machen? Die Bildungsprofis selbst rechnen damit, dass ihren Ergebnissen rasch Taten folgen. Andernfalls käme es unweigerlich dazu, "dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Landes sinkt und der Mangel an qualifizierten Fachkräften steigt". Letzten Endes "droht eine höhere Jugendarbeitslosigkeit, und zwar bei Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten und aus dem Migrationsbereich so wie bei Akademikern. Soziale Spannungen sind dann unabwendbar."
Pflanz auf hohem Niveau

Dieser Befund bringt Spindelegger in eine Zwickmühle. Nimmt er den Auftrag seiner Experten ernst, bekommt er es einmal mehr mit den AHS-Gewerkschaftern zu tun. Ignoriert er Hengstschläger &Co, kann er sich künftig Thinktanks und unabhängige Fachleute abschminken. Denn pflanzen lässt sich niemand gerne. Schon gar nicht auf diesem Niveau.

Vielleicht hilft ihm die Tatsache, dass sich immer mehr vom bildungspolitischen Kurs der VP absetzen: die OECD, die EU, die Uno, sämtliche Sozialpartner, nahezu alle Bildungswissenschafter, die Katholische Aktion, die Industrie, die Caritas und nicht zuletzt das einzige umfassende Bildungskonzept der ÖVP, das 1974 abgesegnet wurde. (Bernd Schilcher, DER STANDARD, 4.8.2012)