"Die von der Krisenentwicklung bedrohte Mittel- und Oberschicht wird zu einer homogenen Bevölkerung mit genetisch qualitativ hoch stehenden Charaktereigenschaften erklärt, die sich gegen die überfruchtbaren 'Minderwertigen' wehren muss."

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Die Kulturhistorikerin Anna Bergmann hat sich in dem Sammelband "Rasse und Raum", der in Kürze erscheinen wird, eingehend mit der Reaktualisierung des rassistischen Bevölkerungsdiskurses in Thilo Sarrazins Bestseller "Deutschland schafft sich ab" (2010) beschäftigt. Im Interview mit daStandard.at spricht sie über den rassischen Antiislamismus bei Sarrazin und die Gefahr des bürgerlichen Selbstverteidigungskonzepts.

daStandard.at: Hat Sarrazin den rassistischen Bevölkerungsdiskurs wieder salonfähig gemacht?

Bergmann: Ja, das ist das Besondere an diesem Buch, dass Sarrazin mit dem wissenschaftlichen Besteck der Demografie und Humangenetik rassistische Argumentationsfiguren aufgreift und diese auf soziale Krisenphänomene der heutigen Zeit anwendet. Diesem Schema folgten auch die Rassenhygiene und die Eugenik, die sich als wissenschaftliche rassistische Bewegungen Ende des 19. Jahrhunderts formiert hatten. Genau diesem Muster entspricht auch die Sarrazin'sche Schrift.

Menschen aus den mittleren und akademischen Schichten, darunter viele Intellektuelle, haben durch den Kauf und durch Kommentierungen dieses Buches dokumentiert, dass sie dieser rationalisierten Version des Rassismus etwas abgewinnen können. Die demografische und humangenetische Fundierung - was immer man davon wissenschaftlich halten mag - ist das Gefährliche an seiner Schrift, das sie salonfähig macht.

daStandard.at: Auf welche Argumentationslinien greift Sarrazin konkret zurück? Schließlich wird ja das Wort "Rasse" in seinem Buch durch den Begriff "Ethnie" ersetzt.

Bergmann: Eigentlich ist es egal, ob Sarrazin von Rasse oder Ethnie spricht - das sagt er ja auch in einem Interview in der "taz". Und ich würde ihm nicht widersprechen: Auf Wunsch des Verlages hatte er diese Begriffe ausgetauscht, es war ihm egal, denn dadurch hat sich der Inhalt seines Buches in keiner Weise verändert. Außerdem verglich er ja auch unter stürmischem Beifall auf einer öffentlichen Veranstaltung MigrantInnen mit belgischen Ackergäulen, die sich mit Lipizzanerpferden vermischen würden.

Aber seine Argumentationsmuster sind entscheidend. Die Rassenhygiene griff die Krisenentwicklungen des 19. Jahrhunderts auf, deutete sie genetisch und stellte sie in einen Zusammenhang mit der Geburtenentwicklung. Seit Ende des 19. Jahrhunderts gab es in den Industrieländern einen demografischen Umbruch, den wir als relativen Geburtenrückgang bezeichnen. Der Geburtenrückgang war aber nicht in allen Schichten gleich ausgeprägt, sondern Frauen aus dem Bürgertum gebaren zunehmend weniger Kinder im Vergleich zu Frauen aus der Armutsbevölkerung.

Diese Entwicklung nahmen die Rassenhygieniker und Eugeniker zum Ansatz ihres politischen Konzepts, und sie behaupteten, dass die "Rasse" sich zunehmend verschlechtere, wenn nicht eine Gebärförderung bei Frauen aus den höheren Schichten und eine Geburtenverhinderung bei Frauen aus der Armutsbevölkerung politisch durchgesetzt werde. Dieses Argumentationsmuster nimmt auch Sarrazin zur Grundlage seiner Thesen.

daStandard.at: Das Gebärverhalten der Frauen scheint Sarrazin besonders zu interessieren. Warum?

Bergmann: Sarrazin erklärt, dass die höheren Geburtenraten der Muslima die "Intelligenzmerkmale" der deutschen Bevölkerung "verdünnen" und durch die Vermehrung ihrer negativen genetischen Dispositionen - wie Faulheit, Dummheit, Bildungs- und Arbeitsunfähigkeit - zerstören würden. Und dass auch die Frauen aus der deutschen Armutsbevölkerung durch ihre Kinderscharen die genetische Qualität der deutschen Bevölkerung in den Sumpf ziehen würden.

Sarrazin weist damit einen Weg: Entweder Deutschland geht unter, oder diese Entwicklung wird gestoppt, indem wir noch die Kurve kratzen und das schicht- sowie religionsspezifische Gebärverhalten genau umkehren. Sarrazin benutzt also das Muster des rassischen Antisemitismus und wendet es als rassischen Antiislamismus an. Außerdem verknüpft er den rassischen Antiislamismus mit der rassenhygienischen Diskussion über den Geburtenrückgang, die ebenso antifeministisch geprägt war. Denn schließlich sind hier die Frauen als Gebärende gefragt und werden für höhere politische Ziele in die Pflicht genommen.

daStandard.at: Sie vergleichen Sarrazins Argumentation mit dem völkischen Antisemitismus. Welche Ähnlichkeiten gibt es da?

Bergmann: Ich vergleiche diese Argumentation mit dem völkischen Antisemitismus, weil im 19. Jahrhundert aus der jüdischen Religionsgemeinschaft eine Rasse, also eine Bevölkerungsgruppe mit einer bestimmten negativen und genetisch erklärten Charaktertypologie, konstruiert wurde. Und genau dieses Muster bedient auch Sarrazin, indem er einer großen heterogenen Religionsgemeinschaft, die in vielen Ländern und Kontinenten mit jeweils unterschiedlichen kulturellen Hintergründen zu finden ist, vererbte Charaktermerkmale zuschreibt.

Im zweiten Schritt werden diese Attribute auf die Evolutionsgeschichte bezogen, und Sarrazin behauptet, dass die muslimische Religion durch einen weniger intensiven "Kampf ums Dasein" und eine dadurch bedingte geringere biologische Selektion noch nicht auf der Höhe der Zivilisation angekommen sei. Die jeweiligen genetischen Gegensatzpaare von muslimischer und christlicher "Bevölkerung" lauten: Gewalt versus Rationalität; Dummheit versus Intelligenz; Faulheit versus Tüchtigkeit.

daStandard.at: Sie erwähnen in Ihrer Analyse auch, dass Sarrazin auf religionsbiologische Erklärungsansätze und Klassifizierung zurückgreift und einen Säkularisierungsmythos reproduziert. Was meinen Sie damit?

Bergmann: Unser kulturelles Selbstverständnis von einer gewaltfreien und demokratischen Gesellschaft bezieht sich stets auf die Aufklärung, insbesondere wenn es um den Islam, die Gewalt und das Patriarchat geht - so konstruiert auch Sarrazin diese "Trias". Und das ist ein großer Blödsinn, wenn wir die Geschichte der Gewalt und des Patriarchats seit der Aufklärung genauer betrachten. Denn die großen Theorien des wissenschaftlichen Rassismus, in dem es um die Rationalisierung der Gewalt geht - und diese ist, wie wir spätestens seit Auschwitz wissen, die gefährlichste Version -, haben ihren Aufschwung seit der Aufklärung und sind paradoxerweise aus der Aufklärung entstanden.

Sarrazin blendet das Gewaltpotenzial unserer westlichen Zivilisation komplett aus - also den Kolonialismus, zwei Weltkriege, die rassistische Vernichtungspolitik im Nationalsozialismus. Stattdessen reproduziert er eine Ideologie von der gewaltfreien modernen Gesellschaft, die sich seit der Aufklärung bruchlos auf das Prinzip der Rationalität beruft und die erst jetzt und neu von Menschen muslimischer Glaubensrichtung durch einen genetisch bedingten Hang zur Barbarei bedroht werde.

daStandard.at: Für Sarrazin sind Menschen aus einkommensschwachen Schichten und Muslime weder tüchtig noch besonders intelligent und volkswirtschaftlich gesehen ineffizient.

Bergmann: Dieses Erklärungsmodell macht meines Erachtens Sarrazin auch politisch so gefährlich, denn wie in rassistischen Denkmustern generell der Fall, sollen soziale Probleme durch die Abschaffung bestimmter Menschen gelöst werden, indem sie selbst zur Ursache einer großen und übermächtigen Entwicklung, die niemand mehr versteht und im Griff hat, erklärt werden. Wie in der Rassenhygiene auch wird Armut als ein genetisches Phänomen gedeutet, das uns alle in den Ruin führen würde.

Umgekehrt wird die von der Krisenentwicklung bedrohte Mittel- und Oberschicht zu einer homogenen Bevölkerung mit genetisch qualitativ hoch stehenden Charaktereigenschaften erklärt, die sich gegen die überfruchtbaren "Minderwertigen" wehren muss. Dieses rassistische Konzept kennzeichnet Michel Foucault als "Verteidigung der Gesellschaft". Genau dieses Muster reproduziert Sarrazin: "Wir müssen uns gegen diesen gesellschaftlichen Ballast wehren, ansonsten gehen wir alle unter." Diese Logik folgt einem Selbstverteidigungskonzept und spricht sich gleichsam von Gewalt frei - schließlich geht es um die "Lebensrettung" eines konstruierten höherwertigen Ganzen.

daStandard.at: Warum ist Armenfeindlichkeit wieder salonfähig geworden?

Bergmann: Wie eben schon gesagt: Armut wird als parasitärer Lebensstil gedeutet, der immer mehr als eine negative Charaktertypologie und nicht mehr als ein Ergebnis unserer gesellschaftlichen Misere im Sinne eines Strukturmerkmals des neoliberalen Globalisierungsprozesses wahrgenommen wird. (Güler Alkan, daStandard.at, 6.8.2012)