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Nicht nur Religionen nehmen sich unserer Körper an.

Foto: APA/BEA KALLOS

Seit 4.000 Jahren gibt es im Judentum die Praxis der Beschneidung von Buben. Eine lange Tradition. Dass diese Praxis so alt ist, spricht allerdings für Markus C. Schulte von Drach nicht für die Beschneidung. Es sollte vielmehr Argument dafür sein, diese Praxis gründlich zu überdenken. Wer wolle schon in einer Gesellschaft leben, die sich am Leben von vor 4.000 Jahren orientiert.

Beschneiden aus Gründen der Traditionen - dieses von vielen ReligionsvertreterInnen benützte Argument ist tatsächlich ein schwaches. Aber auch jene, die den eigenen Standpunkt als kulturell geprägt aus den Augen verlieren und gleichzeitig religiös motivierte Körperpraktiken als barbarisch diffamieren, machen es sich zu einfach.

Eine andere Autorität als Gott

Denn selbstverständlich argumentieren auch die GegnerInnen der Beschneidung von männlichen Babys entlang einer Tradition - einer Tradition, in der die Schulmedizin im Speziellen und Wissenschaft im Allgemeinen höchste Autorität genießen. Diese Autorität wird akzeptiert, obwohl wir wissen, dass das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse oftmals ökonomischen Interessen geschuldet ist, dass die Evidenz mancher Ergebnisse zu wünschen übrig lässt und dass ebendiese von den Medien sehr gern vereinfacht bis schlichtweg falsch wiedergegeben werden.

So finden beispielsweise Studien über Übergewicht mit Titeln wie "Dicke unterschätzen die Gefahren des Übergewichts" in die Medien Eingang, obwohl dieser Zusammenhang in der beschriebenen Studie gar nicht untersucht wurde. Dazu kommen Bilder von überquellenden Bäuchen und auf Couchen liegenden Menschen, die unsere Vorstellung von einem akzeptierten Körper in Form bringen. Und dass die Arbeit an einem gesunden respektive schönen Körper nie aufhört, daran erinnert uns stetig eine riesige Lebensmittel- und Gesundheitsindustrie, die damit enorme Gewinne einfährt. Sei es mit Vorsorgeuntersuchungen, Blutdruckmedikamenten, cholesterinsenkenden Nahrungsmitteln, Diätjoghurt oder Sportstudiomitgliedschaften.

Für viele hat dies alles negative Auswirkungen auf ihr psychisches und physisches Wohlbefinden, denn entziehen kann sich ob der Omnipräsenz der vielen und oft widersprüchlichen Empfehlungen zum optimalen Körper praktisch keineR.

Autonomer Umgang?

Von einem autonomen Umgang mit dem Körper sind säkulare Körperpraktiken also weit entfernt. Und es ist nichts anderes als eine kulturelle Tradition, die das Vertrauen in den allgemeinen Gesundheitsdiskurs begründet. Tatsächlich stehen wir aber der Beziehung zu unserem Körper in sehr vielen Fällen mehr blind als aufgeklärt gegenüber. 

Für Ideologie braucht es keine Religion, das sollte in der Debatte über Beschneidung nicht übersehen werden. Was im Übrigen auch ein Blick in die USA bestätigt, wo die hohe Anzahl an beschnittenen Männern mit Hygiene begründet wird - also ganz im Sinne einer westlich geprägten aufklärerischen Argumentationslinie. Ein Argumentationsstrang ("Gesundheit") kann also in unterschiedliche Ansichten münden, und jede Seite kann dabei für ihre jeweilige Position Fakten vorlegen.

Gemeinsame Baustelle

Weder das Pochen auf eine Tradition aus Gründen der Tradition noch Belehrungen aus einer vermeintlich traditionsfreien Kultur bringen uns weiter. Vielmehr sollte das gemeinsame Problem, das AtheistInnen wie Gläubige haben, in den Blick genommen werden: der Zugriff auf unsere Körper.

Dass die Praktiken der Beschneidung durch Religionen ein massiver Zugriff auf den Körper sind - davon haben wir in den letzten Wochen viel gehört. Doch auch die Wissenschaft verschafft sich Zugang zu unseren Körpern. Natürlich im Sinne einer Verbesserung von Lebensqualität - doch ein wissenschaftsorientierter Zugang zur Frage, was das Beste für Mensch und Körper ist, schützt deshalb noch lange nicht vor Interpretation und Missbrauch.

Das soll uns in keine Relativismus-Sackgasse führen. Doch es muss mehr Bewusstsein dafür geben, dass der Zugriff auf den Körper auch durch einen säkularen Staat und einen gesellschaftlichen Konsens darüber, wie Körper, Sexualität oder Gesundheit beschaffen sein müssen, existiert. Es wäre also höchste Zeit, den Fokus zu erweitern und die Gegenüberstellung "Tradition" versus "Faktenwissen" zu hinterfragen. Denn die Baustelle "selbstbestimmter Umgang mit dem Körper" ist groß, und sie ist eine gemeinsame. (Beate Hausbichler, dieStandard.at, 7.8.2012)