Die Karte zeigt mutmaßliche Produktionsstätten (gelb) und Depots (schwarz) von chemischen Waffen in Syrien. (Quelle: James Martin Center for Nonproliferation Studies)

"Syrien hat laut US-Vertretern begonnen, sein gewaltiges Arsenal an chemischen Waffen aus den Depots zu bringen" - der erste Satz des Wall Street Journal-Berichtes im Juli 2012 schlug ein wie eine Bombe. Seither überschlagen sich die Warnungen, Spekulationen und Aussagen über Syriens Chemiewaffenprogramm und seinen möglichen Einsatz. Angeheizt wurde die Berichterstattung durch ambivalente Aussagen von Regimevertretern in Damaskus, die als Drohung eines möglichen Chemiewaffeneinsatzes gedeutet wurden. Vor allem Medien bewiesen einige Kreativität im Abspielen diverser Schreckensszenarien. Fakten gab und gibt es jedoch kaum: Dem Assad-Regime ist es jahrzehntelang erfolgreich gelungen, sein Chemiewaffenprogramm zu verschleiern.

Dabei hat sich das Land verpflichtet, keine chemischen oder biologischen Waffen einzusetzen. Anders als Erzfeind Israel hat Syrien das Genfer Protokoll von 1925, das die Verwendung chemischer und biologischer Methoden zur Kriegsführung verbietet. unterzeichnet und ratifiziert. Formell hat Syrien damit der Verwendung dieser Waffen als Erstschlags- oder Vergeltungswaffe abgeschworen. Der Konvention über Chemische Waffen (CWC), die die Entwicklung, Produktion, Lagerung und Überstellung chemischer Waffen verbietet, ist das Land jedoch bis heute nicht beigetreten. Es ist diese Ambivalenz, die Anrainerstaaten und dem Westen Grund zur Sorge geben.

Waffenprogramm

Doch wie kam es dazu, dass Syrien zum mutmaßlich größten Produzenten von chemischen Waffen in der Region aufstieg? Experten sind sich bis heute uneinig, wann genau das Programm für chemische Waffen startete. Angenommen wird, dass Syrien erstmals 1973 Artilleriegranaten für chemische Waffen von Ägypten als Vorbereitung für den Yom-Kippur-Krieg erhielt. Benutzt hat es diese offenbar bis heute nicht. Nach der aus syrischer Sicht unzureichenden Unterstützung durch Ägypten entschloss man sich, ein eigenes chemisches Waffenprogramm voranzutreiben. Die endgültige politische Entscheidung für ein eigenständiges Chemiewaffenprogramm wurde wohl nach 1979 - dem Jahr des Ägyptisch-Israelischen Friedensvertrags - getroffen.

Nach dem Verlust der ägyptischen Unterstützung versuchte Syrien durch massive militärische Aufrüstung eine strategische Balance zu erreichen. Beschleunigt wurden diese Bestrebungen durch die israelische Invasion im Libanon 1982. Das Regime von Staatspräsident Hafiz al-Assad musste spätestens damals erkennen, dass sich ihre Luftstreitkräfte nicht mit denen Israels messen konnten - eine massive Aufrüstung im Raketensektor war die Folge. Schon zu Beginn des syrischen Raketenprogramms dürfte auch an die chemische Komponente gedacht worden sein.

Israel

Bis heute ist das Ausmaß und die Größe von Syriens Chemiewaffenprogramm unbekannt. Es wird allerdings davon ausgegangen, dass das Regime von Bashar al-Assad auf einem riesigen Arsenal an biologischen und chemischen Waffen sitzt, einschließlich der chemischen Kampfstoffe VX und Sarin. "Syrien hat die größten Vorräte an chemischen Waffen in der Region", meinte etwa General Yair Naveh vom israelischen Generalsstab. Eine deutlich bessere Vorstellung besitzen westliche Geheimdienste über Syriens Raketenprogramm, das nicht isoliert vom Chemiewaffenprogramm betrachtet werden kann: Die besten chemischen Kampfstoffe sind ohne passende Trägerwaffen relativ nutzlos.

Israel beobachtet die Entwicklung in Syrien in Bezug auf Chemiewaffen mit großer Sorge. Nicht nur, weil die Lage auf den Golan-Höhen, die bisher zu den ruhigsten Grenzen Israels gehörten, zunehmend ungemütlicher wird. Vor allem Syriens Verbindungen zur libanesischen Hisbollah verursachen in Jerusalem Sorgenfalten. Israel befürchtet, dass die radikal-islamische Organisation Scud-Raketen von Syrien kaufen könnte, die wiederum mit chemischen Gefechtsköpfen bestückt werden könnten. Für Israel wäre das ein Kriegsgrund. "In dem Moment, wo wir sehen, dass die Syrer chemische und biologische Waffen an die Hisbollah weitergeben, ist das eine rote Linie und aus unserer Sicht ein klarer casus belli", meinte Israels Außenminister Avigdor Lieberman im Juli.

Al-Kaida

Im Westen hingegen bereitet die steigende Anzahl an jihadistischen Gruppen im syrischen Bürgerkrieg Kopfzerbrechen. Sollte das Assad-Regime fallen und die zentralen Sicherheitsstrukturen zusammenbrechen, so befürchtet man in Washington, dass die beträchtlichen Chemiewaffenvorräte in die Hände von Al-Kaida-nahen Gruppen fallen könnten. Die Terrororganisation hat schon seit Ende der 1990er Jahre versucht, an chemische und biologische Waffen zu gelangen. Dokumente, die 2001 von US-Truppen in Afghanistan entdeckt wurden, zeigen, dass die Al-Kaida-Führung Mittel und Wege gesucht hat, biopharmazeutische Produkte als Waffen zu verwenden - bislang ohne Erfolg.

Wie also mit dem syrischen Chemiewaffenarsenal umgehen? Immer wieder genannt werden gezielte Luftschläge gegen Produktionsstätten und Depots. Für John Hart, Chef des Sicherheitsprojekts für chemische und biologische Waffen am Stockholmer International Peace Research Institute (SIPRI), ist das Zerstören von Lagerstätten mit chemischen Waffen theoretisch möglich: "Eine thermobarische Waffe könnte bestimmte Lagerbestände innerhalb eines gewissen Radius einäschern." Die Explosionen solcher Bomben erzeugen einen derart starken Unterdruck, dass beinahe sämtliche Umgebungspartikel - darunter auch ausweichende chemische Kampfstoffe - in die Explosion gesaugt und zerstört werden. Für Hart wäre das aber "trotzdem keine so gute Idee: weder technisch, noch politisch." Erstens, sagt Hart zu derStandard.at, hätten derartige Luftschläge nur bei Lagerbeständen einen Erfolg, chemische Munition kann man sich seiner Meinung nach nicht so einfach entledigen.

"Boots on the ground"

Außerdem bräuchte es detaillierte Geheimdiensterkenntnisse, wo genau wie viele Chemiewaffen lagern. Doch schon im Irak-Krieg 1991 überstanden die meisten Chemiewaffendepots von Saddam Husssein US-Bombardements, weil die amerikanischen Geheimdienste nur unzureichende Informationen über das irakische Chemiewaffenprogramm hatten. In Syrien ist die Informationslage der Nachrichtendienste vermutlich nicht üppiger.

Eine Alternative sind "Boots on the ground" - Bodentruppen, Spezialisten und Waffeninspektoren. Doch der dafür benötige personelle Aufwand wurde von US-Medien auf zigtausende Mann geschätzt. Und eine Bergung aller chemischen Waffenbestände könnte Jahre dauern. "Der Zeitraum hängt von vielen Faktoren ab, einschließlich des Lagerzustandes und der Art der Munition. Wenn der syrische Vorrat an chemischen Waffen aus Tausenden Geschossen besteht, könnte ein solcher Prozess bis zu fünf Jahre dauern", meint Hart. (Stefan Binder, derStandard.at, 13.8.2012)