Wien - Geplündert wird, wo es nur geht. Schonender ausgedrückt: Wir leben in einer Welt des Sampling. Der belgische Choreograf Wim Vandekeybus dringt mit seinem neuen Stück booty Looting, das gerade in der MQ-Halle G bei Impulstanz zu sehen ist, in jene breite Grauzone ein, die sich zwischen originärer Kreation und gieriger Verwurstung, Bildern und Geschichten auftut.
Der titelgebende Ausdruck "booty looting" bedeutet "Plündern von Beute". Und wir müssen nicht erst in die sinistren Abgründe von Produktfälschung oder dem Abzocken von Musik, Filmen oder Texten im Internet blicken, um sofort zu wissen, worum es geht. Schon die guten alten Brüder Grimm haben ihre Märchen dem Volksmund abgelauscht - aber nur, um so einen Schatz zusammenzutragen, der seither gewinnträchtig wieder und wieder ausgebeutet wird.
Mit der Überlegung, dass es womöglich gar keine originäre Schöpfung gibt, sondern alles auf bestehenden Materialien aufbaut, scheint die Postmoderne der Plünderung Tür und Tor geöffnet zu haben. Wie auch immer man dazu stehen mag, auf jeden Fall ist dadurch eine Art neuer Materie entstanden, die aus Mischprozessen gewonnen wird. Die entsprechende Kulturtechnik heißt Sampling.
Und die führt Vandekeybus vor. Mit der deutschen Schauspielerin Birgit Walter, die zum Ensemble des Schauspiels Köln gehört und mit dem Choreografen bereits in zwei seiner früheren Stücke zusammengearbeitet hat, wird eine gesampelte Figur auf die Bühne gestellt. Sie ist real und fiktiv zugleich. Ihre wirkliche Biografie wird lustvoll und die dramatische Wirkung steigernd mit jener anderer Figuren vermischt.
Den Star des Abends mimt der Forced-Entertainment-Schauspieler Jerry Killick. Er moderiert booty Looting, er ist der Geschichtenerzähler darin - ein Fanatiker der Anekdote. Über Joseph Beuys' Aktion I like America and America likes Me von 1974 führt der Erzähler Birgit Walter als eine Ethnologin vor, die an die Künstlerin und Wissenschafterin Lili Fischer denken lässt.
Schon im Prolog ist Birgit Walter als Medea vorgestellt worden. Später wird dieser Faden wiederaufgenommen, nachdem bereits eine Verwandlung in Romy Schneider bei Georges-Henri Clouzots unvollendetem Filmirrsinn L' enfer erfolgt war. Die Medea bei Vandekeybus bringt ihre Söhne mithilfe des bildproduzierenden Lichtbalkens eines Kopiergeräts um. Nicht ohne Logik. Denn Hauptthema von booty Looting ist die Gier der Gegenwart nach Bildern. Daher ist auch der belgische Rock-Fotograf Danny Willems mit auf der Bühne. Dort werden seine brillanten Bilder durchgehend auf eine Leinwand projiziert. Gegen Ende wird Birgit Walter auch zur Maria Callas, wie sie in Pasolinis Film Medea (1969) ihren berühmten Monolog spricht.
Was Vandekeybus hervorragend darzustellen gelingt, ist die seuchenartige Fiktionalisierung der Wirklichkeit durch die Flut der Bilder und Anekdoten in einer Welt, die Information und Unterhaltung immer weniger unterscheidet. Am Ende sind die zusammengesampelten Fiktionen realer als die dahinterliegenden Tatsachen. Genüsslich fordert der Choreograf sein Publikum. Es muss heute selbst verantworten, ob es die Wirklichkeit erfahren oder sich dem Plündern ergeben will. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 8.8.2012)