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Wasserspringerin Wu Minxia erfährt erst nach dem Gewinn zweier Goldener davon, dass ihre Großeltern starben und ihre Mutter schwer erkrankte. Der Fall sorgt für Empörung in China.

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Goldschützin Yi Siling wird mit Millionen, einem Appartement und einem Luxusauto belohnt. Gewichtheber Wu Jingbiao ist mit Silber nicht glücklich: "Ich schäme mich."

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Franz Beckenbauer und Pele waren 1977 mit dem New Yorker Fußballklub Cosmos nach Peking gereist. Aber im Arbeiterstadion, beim ersten Match seit der Kulturrevolution, blieb es dann so still, als würde nicht gekickt, sondern Schach gespielt. Nach dem 1:1 gegen Chinas Armeemannschaft am 1. August sagte der Kaiser dem Korrespondenten, der damals Student in Peking war: "Es war unheimlich." Er habe noch nie ein Publikum erlebt, das bei Toren höflich applaudiert, aber "sonst keinen Mucks von sich gibt".

Es war am 17. September 1977, ein Jahr nach Maos Tod. China folgte noch der Parole "Freundschaft zuerst - Wettbewerb steht an zweiter Stelle". 35 Jahre später feuern bei Fußballspielen kriegsbemalte Fans mit Tröten und Pfeifen ihre Mannschaften ebenso ausgelassen an wie in unseren Breiten. Von Freundschaft statt Wettkampf will niemand mehr etwas wissen, schon gar nicht, wenn es um die Sommerspiele in London geht. Da zählt nur Gold. Seit Peking 2008 erstmals Olympische Spiele ausrichtete, kennt die Gier nach Edelmetall keine Grenzen mehr. Doch plötzlich ist sie auf den Prüfstand gekommen: Die aus dem sportlichen Nichts zur olympischen Supermacht aufgestiegene Nation verstrickt sich in selbstquälerische Debatten über Gold und Sport und auch über Vergangenheitsbewältigung.

Die "Global Times", ein Ableger des Parteiorgans "Volkszeitung", bot dem Kulturkritiker Zhang Yiwu von der Universität Peking eine Plattform zur Kritik an Maos Sportdoktrin. Sie hätte chinesische Mannschaften verleitet, "absichtlich internationale Spiele zu verlieren", schreibt er. China hätte "weder Respekt vor den Athleten noch vor dem Publikum" gezeigt. Es war eine "pervertierte Vorstellung von sportlichem Verhalten."

Unverhüllte Gier

Die "falsche Selbstverleugnung" der Mao-Ära, so höhnte ein Blogger, sei ohne Übergang in die heute "unverhüllte Gier nach Gold" umgeschlagen. "Unsere Sportautoritäten sind so sehr darauf fixiert, dass sie alle Wertvorstellungen opfern." Die "Sucht nach sportlichem Gold und die Vergötzung des Wirtschaftswachstums" seien zwei Seiten einer Medaille, schrieb der prominente Journalist Liu Hongbo. Sein Kommentar "Chinas Manie nach Gold und GDP" erschien in großen Tageszeitungen. Während sich Pekings Regierung vom Auslaufmodell des Wachstums, auf dessen Altar sie Gesundheit und Umwelt opfert, um jeden Preis zu befreien suche, drehe das Sportsystem erst auf. Skrupellos lasse es die Athleten von der Außenwelt isolieren. Diese erfahren nicht einmal, "wenn ihre Verwandten kritisch erkranken oder gestorben sind". Werde ein Wettkämpfer jedoch nicht Erster, stelle er seine Nation bloß.

Liu schreibt: "Die Menge an Edelmetall darf nicht Messlatte des sportlichen Bruttosozialprodukts werden." Sie ist es längst. Schanghais "Morning Post" nennt es eine Fehlentwicklung, wenn "Goldmedaillen sich in den Währungen Ehre, Position, Bargeld, Autos und Häuser auszahlen." China.org.cn, die Website der Regierung, verglich die Höhe der Prämien für Schwimmerin Zhuang Yong, die vor 20 Jahren in Barcelona Gold holte, mit der Belohnung für Londons Goldschützin Yi Siling. Die Schwimmerin bekam 1992 nur 80.000 Yuan. Yi erwartet neben der Staatsprämie von 500.000 Yuan (60.000 Euro) und Sonderzahlungen von 800.000 Yuan auch ein Appartement in ihrer Heimatprovinz Guangdong. Dazu erhält sie Belohnungen von ihrer Heimatstadt Zhuhai und weitere Prämien im Gesamtwert von vier Millionen Yuan. Und Chinas Audi-Vertrieb spendierte einen Audi A6L. Die Pekinger "Abendzeitung" rechnete vor, dass das zweijährige in- und ausländische Spezialtraining für Schwimmstar Sun Yang, der sich in London zweimal Gold holte, mehr als umgerechnet 1,2 Millionen Euro kostete.

Verstörende Meldungen

Anlass zur ungewöhnlichen Kontroverse pro und contra Gold gaben verstörende Meldungen aus London. Goldschwimmerin Ye Shiwen reüssierte mit Rekordleistungen. Als ein US-Trainer die 16-Jährige ohne Handhabe des Dopings beschuldigte, sorgte seine üble Nachrede dafür, dass sich Millionen mit ihr solidarisierten. Der patriotische Drive hielt nicht an. Blogger reagierten frustriert, als die beiden Badmintonspielerinnen Wang Xiaoli und Yu Yang wegen Taktiererei und unsportlichen Verhaltens disqualifiziert wurden. Danach stieß Gewichtheber Wu Jingbiao junge Chinesen vor den Kopf. Er freute sich nicht über seine Silbermedaille, sondern schämte sich "vor meiner Nation, vor meinem Team und meinen Anhängern". Zorn löste auch die öffentliche Niedermachung der 17-jährigen Gewichtheberin Zhou Jun durch chinesische Staatsmedien als Versagerin aus. Die "Yunnan Metropol Zeitung" titelte "Schande!". Wütende Blogger attackierten den Chefredakteur. Zwei Tage später entschuldigte er sich für die Entgleisung.

Wie lange die neue Nachdenklichkeit in Chinas Öffentlichkeit anhält, ist ungewiss. Sie wirkte auch im Jubel am Sonntag nach, als Chinas Badmintonspieler erstmals alle fünf Goldmedaillen abräumten. "Xinhua" forderte die Leser auf, über die Siegesserie nicht den Match-Fixing-Skandal vom Dienstag zu vergessen. "Beim Badminton erleben wir unsere besten, aber auch unsere schlimmsten Seiten." Der selbstkritische Ton kommt gerade bei jungen Chinesen an. Unter ihnen gären Frust und Stress über den Drill ihres Schulsystems, das jedes Jahr aufs Neue neun Millionen Oberstufenschüler durch das Nadelör der Hochschulaufnahmeprüfungen zwingt. Bei der Elitenauswahl des Sportsystems ist die gleiche Trainingsmaschinerie am Werk. Zehntausende erregten sich online über die Behandlung der Goldmedaillen-Wasserspringerin Wu Minxia. Sie erfuhr erst nach ihrem Sieg, dass ihre Großeltern vor einem Jahr gestorben und ihre Mutter schwer erkrankt war.

Das habe Methode, meint der emeritierte Professor der Schandonger Universität, Sun Wenguang. Der 78-Jährige sieht Chinas System in der Tradition der einst sowjetischen Sportelite-Auswahl stehen, die wiederum von Nazideutschland gelernt habe. Sportförderung unter Staatsmonopol verfolge nur den Sinn, Gewinner zum Ruhm von Nation, Partei und Staat zu produzieren. In China könne sie alle Ressourcen auf die Produktion von Goldmedaillen konzentrieren, ohne sich um Breitensport zu kümmern. Kein Land habe in kürzerer Zeit so aufgeholt wie China, das erst 1984 gestartet war. 2008 wurde es mit 51 Goldmedaillen die Nummer eins.

Das "Imageunternehmen Gold" ist das wichtigste und erfolgreichste Projekt der nach außen gerichteten kulturellen Soft-Power-Strategie Pekings. Doch nun beginnt zu Hause das Murren. "China Newsweek" erschien unter dem Titel: "Bei den Olympischen Spielen geht es nicht nur um Gold". Es fragt, wann Chinas Sportpolitik von ihrer Besessenheit nach Edelmetall ablässt und zum Sinn des Sports findet, der auch Entspannung und Vergnügen bedeute.

Imperium schlägt zurück

Die "Pekinger Tageszeitung" hingegen brach eine Lanze für das staatliche Sportsystem: "Weil es zu unserer Situation passt, ist es ein gutes System." Viele würden vergessen, dass "China ein Entwicklungsland mit schwachen Grundlagen ist. Wenn wir im Sport Großes leisten wollen, müssen wir alle Kräfte bündeln."

Auch die "Global Times" stellt sich polemisch gegen die "Berufsoppositionellen" hinter die Elitenförderung. Ihre Überlegenheit bestehe darin, alle Sportressourcen des Landes auf "wenige, am meisten talentierte Athleten zu konzentrieren, die die Champions der Welt werden wollen". China brauche zwar Reformen. Aber es wäre falsch, das gesamte System zurückzuweisen oder darin politische Mängel erkennen zu wollen. Die Kritiker seien eine Minderheit, schreibt die "Global Times". "Der große Chor bei uns ruft nach mehr Gold und Glanz." Aber immerhin, es gibt eine Debatte. (Johnny Erling, DER STANDARD 8.8.2012)