Vier Jahre lang haben die Experten jeden Sommer das Fortpflanzungsverhalten der Strandläufer in freier Wildbahn beobachtet: In der Balzzeit schlafen die Männchen kaum.

Foto: MPIO/Wolfgang Forstmeier

Juneau - Barrow an der Nordwestküste Alaskas ist wahrlich ein abgelegener Ort. Die Siedlung liegt eingerahmt vom Polarmeer und der schier unendlichen Tundra. Im Frühsommer herrscht dort jedoch hektische Aktivität. Langschnabelige Vögel wuseln umher, jagen einander, fliegen auf. Es sind Graubruststrandläufer (Calidris melanotos). Die Strandläufer-Männchen verteidigen ihre Territorien und buhlen gleichzeitig um die Gunst der weiblichen Artgenossen. Praktisch pausenlos.

Im Juni, zur Paarungszeit, geht die Sonne bei Barrow nicht mehr unter. 24 Stunden Tageslicht täglich, und die männlichen Strandläufer scheinen währenddessen gar nicht mehr zur Ruhe zu kommen. Ständig wird imponiert, gekämpft und geflirtet. Brauchen die Tiere keinen Schlaf?

Dieser Frage ist ein internationales Forscherteam unter Leitung des belgischen Biologen Bart Kempenaers vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen in einer Feldstudie nachgegangen, deren Ergebnisse nun in "Science" veröffentlicht wurden. Vier Jahre lang reisten die Experten jeden Sommer nach Barrow, um die Strandläufer in freier Wildbahn zu beobachteten. Sie nahmen genetische Proben und fingen Vögel ein, um sie mit speziellen Datenloggern zu versehen. So gelang es, einen detaillierten Einblick in das Fortpflanzungsverhalten von C. melanotos zu erhalten.

Graubruststrandläufer sind polygyn, es gibt keinerlei Form von Paarbildung. "Die Weibchen bekommen von den Männchen nur Sperma und sind deshalb äußerst wählerisch", erklärt Bart Kempenaers im STANDARD-Gespräch. Um die Brutpflege scheren sich die gefiederten Herren nicht im Geringsten. Für die Muttertiere bedeutet das: Lediglich der mit den besten Genen ist interessant.

Die Partnerqualität dürfte sich am zuverlässigsten in körperlichen Leistungsfähigkeit ausdrücken. Die ist bei den männlichen Vögeln in der Tat beeindruckend. Mittels winziger eingepflanzter Messgeräte gelang es den Forschern, die Gehirnaktivität der Tiere zu messen. Verblüfft stellten sie fest, dass die Männchen in der Balzzeit kaum schlafen. Wochenlang. Nur kurze Nickerchen sind drin, und die dauern nicht mehr als ein paar Minuten. Im extremsten Fall war ein Vogel 19 Tage lang mehr als 95 Prozent der Zeit aktiv.

Den Fortpflanzungserfolg einzelner Männchen konnte das Team anhand genetischer Untersuchungen nachweisen. Hier zeigte sich ein klarer Zusammenhang. Die Tiere, die am wenigsten schlafen, zeugen die meisten Nachkommen. Der Erfolg bei den Weibchen ist also die Frucht pausenloser Bemühungen.

Die Studie wirft die Frage auf, ob Schlaf tatsächlich eine unerlässliche Regenerationsphase ist, oder ob sich darauf auch verzichten lässt. Vermutlich ist die Fähigkeit zur längeren Schlaflosigkeit bei C. melanotos das Ergebnis eines jüngeren evolutionären Selektionsprozesses, der nach der letzten Eiszeit begann und noch immer anhält, meint Kempenaers. "Wir nehmen auch an, dass die Männchen nach der Balzzeit wieder viel länger schlafen." (Kurt de Swaaf/DER STANDARD, 10.8.2012)