Bild nicht mehr verfügbar.

Eine Menschenschlange in Buenos Aires - wer sich hier anstellte, wollte abgewertete Pesos gegen US-Dollar eintauschen.

Foto: Reuters/Rogers

Ingo Malcher: "Dann fangen plötzlich die Refrains an: Es folgt Sparprogramm auf Sparprogramm."

Foto: Privat

Die Krise und wie es dazu kam hat Ingo Malcher auch in einem Buch beschrieben: Tango Argentino. Portrait eines Landes, München (2008): Beck Verlag.

Foto: Verlag

Ingo Malcher lebte zehn Jahre lang als Südamerika-Korrespondent in Buenos Aires.  Im Wirtschaftsmagazin "Brandeins" veröffentlichte er jüngst in einem Tagebuch, seine Eindrücke von der Zeit der Pleite. Der Bankrott des Landes 2001 war begleitet von Plünderungen und Demonstrationen und ganz praktischen Problemen, die es damals zu lösen galt.  Was er in Hinterzimmern von Banken trieb und wie es ist, wenn man vor leeren Bankautomaten steht, erzählt er im derStandard.at-Interview.

derStandard.at: Sie lebten in Argentinien, als das Land 2001 Pleite ging. Der Bankrott eines Landes folgt einem bestimmten Muster, sagen Sie. Was ist rückblickend der Refrain?

Ingo Malcher: Refrain ist tatsächlich ein schöner Begriff, weil Dinge immer wieder kommen, manche täglich und manche wöchentlich. Das Muster, das ich erkenne und das es in Griechenland und Spanien auch gibt: Sie haben erst einmal über eine bestimmte Zeit hinweg Wirtschaftswachstum und die Haushaltsseite vernachlässigt und stellen irgendwann fest: Das Wirtschaftswachstum lässt nach.

derStandard.at: Der Anfang vom Ende liegt also relativ weit zurück?

Malcher: Wie das Wirtschaftswachstum in Argentinien zustande kam, hätte eigentlich schon hellhörig machen müssen. In Argentinien war es der seit 1992 angestrengte Privatisierungsprozess, der ab 1996/97 zum Stillstand kam. Dann gab es keine bedeutenden Kapitalflüsse mehr nach Argentinien. Anfangs dachte man, man schafft die alten Wirtschaftsraten wieder. Man hat sich immer stärker verschuldet und den Peso an den Dollar gebunden. Auch eine Parallele zu Griechenland: Man hatte eine viel zu starke Währung für eine viel zu schwache Wirtschaft. Der Staat musste das mit immer stärkerer Neuverschuldung ausgleichen.

Dann fangen plötzlich die Refrains an: Es folgt Sparprogramm auf Sparprogramm, mit denen man immer stärker das Wirtschaftswachstum abwürgt. Es gibt Kürzungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich, bei den Staatsangestellten, bei bestimmten Infrastrukturprojekten. Das bremst die Nachfrage, damit nimmt der Staat weniger Steuergeld ein, hat also noch weniger Möglichkeit den Schuldendienst zu bedienen. Nimmt also noch mehr Schulden auf.

derStandard.at: Damit sind wir schon mitten im Strudel.

Malcher: Je mehr ich spare, desto tiefer grabe ich mein eigenes Loch. Die Fanfaren im Refrain sind dann die täglichen Nachrichten. Der Emerging-Market-Bonds-Index legt die Zinssätze fest für den Wiederverkauf von Staatsanleihen. Dort stiegen die Risikopunkte täglich. Am Ende hat man alle paar Monate eine Abwertung der Rating-Agenturen, bis man an einem Punkt steht, wo es nicht mehr weitergeht und ein Schuldenschnitt ansteht.

derStandard.at: Spreads und Ratings sind Begriffe, die also plötzlich jedermann ein Begriff sind. Stellt sich da auch bei den Bürgern das Gefühl ein, dass etwas in der Luft liegt?

Malcher: B+ oder B interessiert normalerweise keinen Menschen auf der Straße. Spätestens in dem Moment, in dem der Bäcker, bei dem Sie morgens Ihr Brot kaufen, über die Rating-Noten seines Landes informiert ist, merkt man: Oha, jetzt steht wirklich etwas bevor.

derStandard.at: Damals trat ein Freund mit einem Anliegen an Sie heran mit den Worten: Glaubst Du, ich kann bei einer Bank in Deutschland oder in der Schweiz ein Konto eröffnen? Ich bin ja nicht paranoid, aber... Wie sehr spielt die Paranoia in so einer Situation eine Rolle?

Malcher: Wenn Sie in Wien und ich in Hamburg nur irgendwie das Gefühl haben, unsere Bank ist in Schwierigkeiten und dann Geld abheben und einen sichereren Ort dafür suchen, dann ist das paranoid. In Argentinien war die Angst tatsächlich begründet. Was die Kapitalflucht angeht, so hat sie dem Bankensystem, das vorher schon extrem unter Druck war, den Rest gegeben. Was Argentinien aber wirklich erdrückt hat, waren die 130 Milliarden Dollar Staatsverschuldung.

In Griechenland und Spanien passiert das gleiche. Würden die Bürger ihr Geld in den unterkapitalisierten Banken lassen, würde es wahrscheinlich nicht so schlimm kommen. Dumm ist nur, wenn man sich als letzter bewegt. Andrerseits könnte man sich für Europa überlegen, ob man den freien Kapitalverkehr nicht einschränkt. In Europa könnten die Regulierungsbehörden so etwas machen, in Argentinien konnten sie es nicht.

derStandard.at: Ihr Freund war damals mit rund 50.000 Dollar und 50.000 Pesos auf der Seite quasi guter Durchschnitt. Ein Konto im Ausland zu eröffnen war für ihn gar nicht so einfach, weil man diese Peanuts gar nicht wollte. Liegt für so jemanden der Schluss nahe: Wer viel hat, wird es sich richten?

Malcher: Selbstverständlich. Die Summe sei einfach zu niedrig war auch die Antwort, die er von großen internationalen Banken mit oder ohne Filialnetz in Argentinien erhalten hat. Habe ich eine halbe Million oder mehr, finde ich überall auf der Welt eine Bank, die mich gerne als Kunden nimmt.

derStandard.at: Im Zuge dieser Suche nach einem sicheren Platz für das Geld haben Sie sich auch in die Hinterzimmer von Bankfilialen begeben. Welchen Reim macht man sich bei solchen Transaktionen, wo dann im Plastiksackerl die Scheine herumgetragen werden, man keine Quittungen bekommt, sondern irgendwelche Zetterln mit handgeschriebenen Namen drauf?

Malcher: Man überprüft noch einmal sein Gottvertrauen und man fühlt sich ein wenig wie ein Drogenhändler. Man kennt solche Berge von Geld nur aus Filmen. Es wird bar abgerechnet und es zählt der Handschlag. Es ist ein ganz, ganz ungutes Gefühl. Ich hab meinen langjährigen Freund dabei nur begleitet und es war glücklicherweise nicht mein Geld.

Ich hätte mich in diesem Moment wohl gefragt: Ist das die Sache wert? Kann ich der Person, die mir gegenübersitzt und die mir sagt, sie eröffnet morgen unter meinen Namen ein Konto in der Schweiz, wirklich vertrauen? Ich kriege keine Quittung und ich kann noch nicht einmal beweisen, dass ich dagewesen bin. Die Verzweiflung bei den Menschen, die dazu bereit sind, muss sehr groß sein. Bei ihm kam am nächsten Tag tatsächlich ein Fax durch, mit dem Namen einer Bank, die ich im Übrigen noch nie im Leben gehört habe. Leute, die solche Geschäfte anbahnen, sind natürlich die Krisengewinner.

derStandard.at: Damals wurde viel bar bezahlt bzw. offene Rechnungen auch gar nicht oder mit irgendwelchen Scheinchen beglichen. Im Dezember 2001 fror die Regierung die Bankkonten ein - die Banken standen vor dem Zusammenbruch. Was ist das für ein Gefühl?

Malcher: Ein ziemlich dummes. Sie wachen morgens auf, schalten das Radio ein, wie das in irgendwelchen außergewöhnlichen Situationen wahrscheinlich normal ist, und sie stellen fest: Es liegt etwas in der Luft. Es hieß damals übrigens nicht, dass Bankkonten eingefroren sind, sondern die erste Nachricht war: Es gibt einen Bankfeiertag. Heute, morgen und übermorgen.

derStandard.at: Wusste man da, wie der Hase läuft?

Malcher: Mir als Ausländer war es nicht sofort klar. Allen argentinischen Freunden, die schon mehr als eine Währungskrise hinter sich hatten, aber schon. Man hofft, dass der Bankautomat, der einem am nächsten ist, vergessen wurde. Ich ging sofort zu diesem Bankautomaten und war auch nicht der einzige, der da naiv davorstand. Dann überlegt man kurz, wieviel Bargeld man noch in der Wohnung hat und wie lange man damit auskommt. Das zweite Problem war: Ich hatte damals Pesos in der Tasche und es war ziemlich klar, dass es eine Abwertung geben würde. Man wusste nicht, wieviel dieser Peso in ein paar Tagen wert sein würde.

derStandard.at: Man versucht sie also loszubekommen?

Malcher: Was nicht so einfach war. Der Händler, bei dem Sie etwas kaufen möchten, möchte diesen Peso gar nicht so gerne haben. Nehmen wir einmal an, Sie verkaufen Thunfischdosen. Sie haben diese Dosen für einen Dollar gekauft und verkaufen sie nun für zwei Dollar. Sie wissen aber nicht, ob der Kurs für diese Pesos, die sie heute einnehmen, nicht vielleicht so schlecht ist, dass Sie einen Verlust mit den Dosen machen. Viele Geschäfte haben deswegen damals einfach zugemacht.

Bei einem Pizzabotendienst konnte ich anschreiben lassen. Das ging, weil man sich gegenseitig vertraut hat. Er wollte auch nicht, dass sein Käse schlecht wird. Wir haben uns geeinigt, dass ich - wenn es wieder Geld gibt - das Geld zahle, das die Pizza dann wert ist. Andere wollten wiederum keine Dollars haben. Stellen Sie sich also vor: Sie wachen am Morgen auf und wissen, Sie müssen mit dem letzten Bargeld über die Runden kommen und wissen aber nicht wie lange das dauert.

derStandard.at: Es kam zu Plünderungen von Supermärkten in Buenos Aires und in anderen Städten und zu Demonstrationen. Nun hatten Sie vermutlich im Hinterkopf, dass Sie im Ernstfall das Land auch verlassen könnten. Wie ging es den Einheimischen?

Malcher: Argentinien ist eine sehr aufgeklärte Gesellschaft und hat eine sehr gebildete Bevölkerung. Man darf nicht vergessen, die Militärdiktatur ging 1983 zu Ende: Demokratische Werte wie Versammlungsfreiheit sind also sehr wichtig in Argentinien. Dann kommt ein Präsident daher, der sperrt zuerst einmal die Bankkonten. Das hat die Leute aus der Mittelschicht zu Tausenden auf die Straße getrieben. Die sozial schwächere Schicht besteht traditionell aus Tagelöhnern. Der Klempner zum Beispiel ist ein Ein-Mann-Betrieb, der wird traditionell bar bezahlt. Wenn es kein Bargeld gibt, dann müssen und können Sie mit einem lecken Rohr eben noch eine Zeitlang leben. Diese Leute hatten aber plötzlich überhaupt kein Einkommen mehr und haben die Supermärkte geplündert. Und das im großen Stil und sehr organisiert - was sollten Sie auch sonst tun?

Als Reaktion auf dieses Gemisch - die Mittelschicht auf der Straße, die sozial Schwächeren Supermärkte plündernd, hat der Präsident den Ausnahmezustand erklärt und hat damit alles nur noch verschlimmert. Die Leute wurden nur noch wütender, weil sie sich in ihrem Recht zu protestieren, beschnitten sahen. Danach gab es heftige Straßenschlachten in Buenos Aires - wo auch Todesopfer zu beklagen wagen. Der damalige Präsident musste abtreten. Parallel dazu haben sehr viele Argentinier im Laufe der Krise das Land verlassen. Viele vor allem junge und gut ausgebildete Leute sind nach Spanien, Italien oder nach England ausgewandert.

derStandard.at: Wie darf man sich so eine Pleiteerklärung vorstellen?

Malcher: Damals haben sich sehr viele Präsidenten innerhalb kürzester Zeit das Szepter in die Hand gegeben. Der Übergangspräsident Rodriguez Saá hat als allererste Amtshandlung sehr pathetisch den Zahlungsausfall begründet. Es klang nach einer neuen Art Unabhängigkeitserklärung und auch irgendwie erleichtert, dass man diese Schuldenlast - fast 80 Milliarden Dollar an private Gläubiger - losbekommt. Man konnte dann anfangen Wachstumspolitik greifen zu lassen. Plötzlich hatte der Staat mehr Geld, um in Infrastruktur zu investieren, um Exportförderung zu betreiben und auch um den Bürgern zu vermitteln, jetzt gibt es Optionen und jetzt müssen wir alle zupacken.

Das hat für starken Rückhalt in der Bevölkerung gesorgt. Wirtschaftlich war es die Rettung. Allerdings: Es gab mit Roberto Lavagna einen hervorragenden Wirtschaftsminister. Er wurde Wirtschaftsminister als wirklich niemand Wirtschaftsminister werden wollte. Und er hat sehr wohl verstanden, dass man Schulden als Land nur dann bezahlen kann, wenn man Wachstum schafft. Dafür braucht es eben Leute, die Mut haben und die wissen, wie das geht.

derStandard.at: Die Umschuldungsverhandlungen darf man sich wohl auch nicht gerade als lustige Veranstaltung vorstellen?

Malcher: Wenn IWF-Delegation auf IWF-Delegation ins Land kommt, Hedgefonds mit Klagen drohen, Anleger in Deutschland damit drohen, die argentinische Botschaft in Berlin pfänden zu lassen, Gläubiger drohen, das Flugzeug der Präsidentin pfänden zu lassen, diesem Druck über Jahre hinweg standzuhalten und am Ende einigermaßen heil rauszukommen, ist das eine Leistung.

derStandard.at: Wäre das ein Vorbild für Griechenland und Co?

Malcher: Ein Schuldenschnitt alleine wird nicht helfen. Vielleicht müsste man einmal den Schuldendienst auf einige Jahre aussetzen. Entschuldung funktioniert aber am besten durch Wachstum. Man muss sich also - begleitet von diversen jetzt diskutierten Reformen - überlegen, wie das funktionieren kann, welche Industrien am Weltmarkt bestehen können. Aber Griechenland, Italien und Co haben den Vorteil, dass sie sich in einer der reichsten Regionen befinden, die beratend zur Seite stehen können. Argentinien stand damals alleine da.

derStandard.at: Am 11. Jänner 2002 haben die Banken wieder aufgesperrt. Gab es einen Run?

Malcher: Dramatisch war - vor allem bei den Verantwortlichen in den Behörden - die Nacht davor. Man wusste nicht, kommen die Menschen in Scharen zu den Banken und heben das Bisschen ab, was sie noch haben? Es gingen nicht alle Argentinier, die noch über eine ohnehin beschränkte Summe verfügen konnten, zur Bank, um sie zu beheben. Es ging also gut. Die neue Regierung hat es geschafft, die Menschen etwas zu beruhigen. Das war eine große Leistung.

derStandard.at: Ihr Freund lebt in Barcelona und hat derzeit offenbar ein Déjà-vu?

Malcher: Ja. Jüngst klingelte bei mir das Telefon. Am Apparat war mein Freund, der sagte: Sag mal Ingo, ist das denn möglich, dass ich in Deutschland ein Konto eröffne?