Stephan Roll, Politologe bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

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STANDARD: Kam die Entmachtung Tantawis wirklich überraschend?

Roll: Jein. Es gab schon zu Jahresbeginn solche Gerüchte. Die Entwicklung ist keine Konfrontation zwischen Muslimbrüdern und Militär, wie man so oft lesen kann. Das wurde alles abgestimmt.

STANDARD: Hat also Tantawi die Abberufung tatsächlich akzeptiert?

Roll: Ich kann mir das schon vorstellen, dass er sich freiwillig in den Ruhestand hat versetzen lassen, um Platz für jüngere Generäle zu machen. Diese zählen ja ohnehin zu seinen Vertrauten.

STANDARD: Was ist dran an den Berichten, Tantawi sei Straffreiheit zugesichert worden?

Roll: Er wurde zum Berater des Präsidenten ernannt und bekam den höchsten Verdienstorden. Beides spricht nicht dafür, dass seine Pensionierung dezidiert gegen seinen Willen erfolgt ist. Zudem können Generäle nur vor Militärgerichte, nicht aber vor zivile Gerichte gestellt werden.

STANDARD: Hat Präsident Morsi die Verfassungsgrenzen übertreten?

Roll: Wird es eine Klage geben, wenn es keinen Kläger gibt? Natürlich ist es problematisch, denn Morsi hat die Verfassung eigenmächtig verändert. Der ganze Transformationsprozess steht auf wackligen Beinen. Auch die Militärführung hat sich bei ihrer Machtübernahme nicht auf Recht und Ordnung berufen. Wahrscheinlich wird der Fall formaljuristisch nicht ausgetestet. Aber das bleibt tatsächlich abzuwarten.

STANDARD: Der eigentliche "Neustart" Ägyptens kommt also erst?

Roll: Völlig richtig. Es muss erst ein gewähltes Parlament eingesetzt werden, und es ist eine neue Verfassung nötig.

STANDARD: Wie reagiert das Ausland auf die Entwicklungen?

Roll: Es wird keine große Unruhe geben. Es gab ja bloß einen "Re-Shuffle" innerhalb des Militärs. Die USA waren wahrscheinlich schon vorab vom Wechsel informiert.

STANDARD: Wie sind die aktuellen Unruhen und Kämpfe am Sinai zu verstehen?

Roll: Sie können ein Vorwand für den Wechsel gewesen sein. Tatsache ist, dass sich der neue Armeechef Abdel Fattah al-Sisi jetzt profilieren kann, denn er hat keine konkrete Kriegserfahrung. Vielleicht spielte diese Möglichkeit für die Wahl des Zeitpunktes auch eine gewisse Rolle. (Gianluca Wallisch, DER STANDARD, 14.8.2012)