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Foto: ALADIN ABDEL NABY / Reuters

Mein Vater rät mir oft, im Ausland vor den eigenen Landsleuten auf der Hut zu sein. Besonders vor jenen, die schon länger da sind als man selbst. "Weil die sich auskennen - und du nicht!" sagt mein Vater zum Abschluss seiner Mahnung. Mein Vater spricht aus Erfahrung. Denn gleich anschließend erzählt er die Geschichte, die ihn und meine Mutter, diese Regel für das Handbuch des Migranten formulieren lässt.

Kreide auf Kreide

Es ist eine dumme, einfache Geschichte, wie sie nicht nur unter Migranten vorkommt, aber bei Migranten besonders tragisch ist, weil sie oft nicht viel mehr besitzen als ihr letztes Geld und den Glauben an die Redlichkeit der Landsleute in der Fremde.

Meine Eltern "wohnen" zur Untermiete bei Landsleuten. Ein Zimmer ist mit Brettern in zwei Hälften geteilt, statt einer Tür ist da nur ein Vorhang. Dann noch zwei Betten, ein Kasten, ein Tisch ein Holzofen. Die Untermiete für dieses Zimmer-im-Zimmer entrichten sie pünktlich. Doch die Landsleute borgen trotzdem noch Geld von meinen Eltern. Nur wenig zwar, aber dafür immer wieder. Wenn mein Vater den Landsmann zur Rückzahlung mahnt, bekommt er fünfzig oder hundert Schilling und den Trost der nächsten Gelegenheit. Dann aber sicher und alles auf ein Mal. Wenn meine Mutter einkaufen geht, bittet sie die Landsfrau auch um das Eine oder Andere, selbstverständlich auf die bestehenden Schulden Aufzurechnendes.

Bald ist meinen Eltern klar, dass sie ihr Geld nicht mehr sehen werden. Und dann entdecken sie, dass in den Brettern des Zimmerabteils Gucklöcher gebohrt sind. Damit der Landsmann meine Mutter bei Tätigkeiten sehen kann, deren Verrichtung sie unbeobachtet wünscht. Am nächsten Tag packen meine Eltern ihren wenigen Besitz in zwei Koffer und ziehen ankündigungslos und grußlos in ein Hotel. Mein Vater sucht und findet zwei Wochen später eine Hausmeisterwohnung in Fünfhaus. In der großen Stadt Wien begegnen sie ihren Landsleuten niemals wieder.

Der gache Hunderter

Trotz oftmaliger Warnung mit der alten Geschichte meiner Eltern, mit der ich sie vor der Abreise quäle, wird meine Freundin nach nur wenigen Wochen in Italien Opfer ihrer Landsleute Susi und Reini, die sechs Jahre vor uns in den Friaul kommen. Susi säuft und Reini, jetzt gar kein und früher ein erfolgloser Sänger, ist Susis große, väterliche Liebe. Zusammen sind Susi und Reini so was wie Bonny und Clyde der Hühnerdiebe von Friaul. Und unsere Nachbarn in Santa Maria La Longa.

Susi ist schlank und blond und nett zu Männern, die glauben sie seien nun Susis neuer Freund, während Reini ihr alter Onkel ist. Danach wird abgezockt. Onkel Reini ist schwer krank, Susi braucht eine neue Waschmaschine, die Miete ist fällig und ein Medikament aus Mexico ist sehr teuer. Zwischendurch arbeitet Susi in einer Bar, wo sie die Zahl-Männer kennenlernt. Meine Freundin wird mit dem gach´n Hunderter abgezockt. "Geh...! Borgst´ma an gach´n Hunderter!?" Reini unterstützt seinen Text mit Gesten des Eilighabens. Den geschuldeten Hunderter bringt er tatsächlich schon am nächsten Tag, also eh gach, wieder. Das macht Reini zwei Mal. Und kommt dann um an gach´n Tausender, den er weder gach, noch irgendwann zurückbringt.

Als ich endlich in Italien ankomme, bestehen Reinis Schulden bei meiner Freundin seit gut zwei Monaten. Das wurmt uns beide gleichermaßen, sodass ich meiner Freundin verzeihe, dass sie meine Warnung ignoriert. Und sie verzeiht sich selbst, dasselbe. Wir wollen unsere Kohle zurück! Weil meine Freundin und Susi in derselben Bar arbeiten, bringt Reini sie abends hin und ich hole sie morgens ab. Susi ist dann so sternhagelvoll, dass ich ihr einfach befehle mir mal zwanzig, mal fünfzig Euro von ihrem Trinkgeld zu geben. Das ist sie von Reini gewohnt und ich muss ihr nicht einmal Watschen androhen. Oder austeilen. Wie Reini.

Nach einigen Wochen habe ich Reinis gach´n Tausender zurück. Doch ich kann nicht widerstehen und hole mir auch noch einen gach´n Extrahunderter von Susi. Als Zinsen selbstverständlich. Unter uns Hühnerdieben selbstverständlich.

Rache stinkt!

Da ist noch die andere Susi. Sie kommt zusammen mit Reini und seiner Susi in den Friaul und man wohnt eine Weile miteinander. Dann streitet man um Geld. Dann wohnt man aus Geldmangel wieder zusammen. Und öfter so fort.

Mit unserer Ankunft jedoch, bricht dieser Kreislauf. Die andere Susi wohnt drei Monate mit uns. In diesen drei Monaten entdecken wir, dass Kleinigkeiten wie Zahnbürste, Seife und Kleiderwechsel keine Rolle in ihrem Leben spielen. Das ist praktisch, weil wir sie sehr Bald nur noch "die Stinkerte" nennen und sie damit von Reini´s Susi unterscheiden, die wir nur noch "die B´soffene" nennen. Während wir noch dabei sind unseren gach´n Tausender von der B´soffenen zurückzuklauen, borgt Reini noch einen gach´n Tausender von der Stinkerten. So dreht sich der Kreislauf des Lebens bei migrantischen Krähen aufs Neue. Gach schon, kommt der Streit ums Geld.

Doch überraschenderweise bleibt alles ruhig. Bis zu dem Tag als Reini und die B´soffene ihren jährlichen Besuch in Wien antreten und den Reserveschlüssel wie üblich unter eine Vase vor der Türe schieben. Es ist der Tag, auf den die Stinkerte wartet. Denn, wie uns bald klar wird, ist das Schlüsselversteck eine Üblichkeit, die der Stinkerten aus gemeinsamen WG-Tagen wohlbekannt ist. Also sperrt eines hellen, sonnigen Tages die Stinkerte mit diesem Schlüssel die Türe auf und packt zu. Weil sie Sie nur dreihundert Euro in bar findet, trägt sie das TV-Gerät, einen CD-Ghettoblaster und den Kühlschrank als Geiseln in ihre Wohnung. Die Waschmaschine ist - trotz mehrfachen Versuchens - zu schwer.

Was für meine Freundin und mich nur eine Telenovela stiller Schadenfreude über das Tun der Krähen sein soll, holt uns unerwartet ein, sodass wir auch (und wieder) zu Krähen werden (müssen). Im unendlich dummen Versuch, Reini´s Wut, in der auch "Verkehrte" Watschen ein Argument sind, von sich abzulenken, behauptet die Stinkerte, Idee und Versteck des Schlüssels hätte sie - von uns! Was uns dazu bewegt, Reini eine Nachricht hinter den Scheibenwischer zu stecken, die besagt, wir hätten nichts mit seiner Kohle zu tun, die Kohle sei bei der Stinkerten. Was Reini dazu bewegt, den Einbruch bei den Carabinieri anzuzeigen. Was die Carabinieri dazu bewegt, mich in ihr Nest einzuladen. Wo ich eine Aussage unterschreibe, die besagt dass ich naiver Weise aber tatsächlich, mit "Kohle" das Mineral zum Grillen meine, um den ich den Streit drehend glaube. Dumm sein ist kein Verbrechen. Bald ziehen wir nach Palmanova und lassen Reini, seine B´soffene und die Stinkerte grußlos und ankündigungslos in Santa Maria zurück. Manchmal begegnen wir einander im Emme Zetta-Supermarkt. (Bogumil Balkansky, 17.8. 2012, daStandard.at)