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Ausschnitt aus einem Werbeplakat für die propagandistisch missbrauchten Olympischen Spiele 1936 in Berlin

Foto: Archiv

Am 17. November 1940 wurden in Wien preußische Parolen geschrien. Randalierende Fußballanhänger schlugen Fensterscheiben ein, demolierten die Staatskarosse des Gauleiters Baldur von Schirach, schnitten Reifen auf und verprügelten "Schupos": In einem Spiel von Admira gegen Schalke hatte der Schiedsrichter zwei Admira-Tore aberkannt. Und das nach einer langen Reihe an tatsächlichen und vermeintlichen Benachteiligungen des Wiener Fußballs gegenüber dem "altdeutschen" durch das nationalsozialistische Regime.

Zu antipreußischen Ausschreitungen kam es bei Fußballspielen in Wien häufig, berichtet der Sportsoziologe Matthias Marschik. Nachdem er sich bisher unter anderem mit dem Wiener Fußball - auch im Nationalsozialismus - beschäftigt hatte, will Marschik, derzeit Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum für Kulturwissenschaften in Wien, den Blick in seinem nächsten Projekt auch auf andere Sportarten in der "Ostmark" richten: "Es geht darum, welche organisatorischen und personellen Veränderungen sich durch den Nationalsozialismus ergeben haben." Und um das Wechselspiel aus Anpassung und Resistenz.

Insbesondere der Fußball bot im NS-Regime eben teilweise auch Raum für subversive Einstellungen. Wobei: "Widerstand war das sicher nicht", stellt Marschik klar. Mit ganz wenigen Ausnahmen hätte es keinerlei Auflehnung gegen das System gegeben. Doch eine antideutsche Haltung war in Wien recht verbreitet und konnte sich im Fußball äußern. Dennoch griff das Regime hier relativ wenig ein. Mit gutem Grund, meint Marschik, denn wie jeder Massensport erfüllte der populäre Fußball auch die Funktion der "Aufrechterhaltung von so etwas wie Normalität".

Den Nationalsozialisten sei sehr wohl bewusst gewesen, dass nicht alle für ihre Ideologie empfänglich waren. Für all diejenigen, die Veränderungen kritisch gegenüberstanden, hätte man einen Bereich benötigt, der eben möglichst wenigen Veränderungen unterworfen worden war: "Und das war der Sport", so Marschik. Er diente als ein Bereich des "kleinen Glücks", als Ventil und als Garant für Normalität. In Kriegszeiten hätte sich das noch verstärkt, sagt Marschik: "Als ob man gesagt hätte: Hier, ihr seht doch, es sind noch genug junge Männer da - sie betreiben ja sogar Sport." Wettbewerbe wurden bis zum letztmöglichen Termin aufrechterhalten, die Spiele waren eine willkommene Abwechslung. Das letzte Meisterschaftsspiel wurde in Wien noch am 4. April 1945 ausgetragen - zwei Tage vor der Befreiung Wiens, als die Rote Armee schon bei Baden stand.

Abseits der Aufrechterhaltung von Normalität diente der organisierte Sport oft auch direkt den Interessen des NS-Regimes: Die "Volksgesundheit" sollte gestärkt werden, körperliche Ertüchtigung war Vorbereitung auf den Krieg; es ging um ein Gemeinschaftsgefühl, um Disziplin und "um die Steigerung der Gebärfähigkeit der Frau", so Marschik. Möglichst alle sollten im Nationalsozialismus Sport betreiben - und das galt ab 1938 auch für die "Ostmark": "Das war eine Art freiwilliger Zwang, nach der Arbeit auf den Betriebssportplatz zu gehen und ein bis zwei Stunden aktiv zu sein", berichtet der Sportsoziologe. Um die Betriebsgemeinschaft zu stärken. Dazu kamen die Hitler-Jugend, der Bund Deutscher Mädchen, der SS- und SA-Sport: "Man versuchte, so gut wie jeden in irgendeiner Form einzubinden."

Auch die Frauen: Während Frauensport im Austrofaschismus eher abgelehnt worden war, forcierte der Nationalsozialismus die körperliche Ertüchtigung von Frauen. Der sportliche Wettkampf blieb jedoch eher den Männern vorbehalten - denn hier geriet die Sportbegeisterung in Widerspruch zum NS-Frauenideal als Heimchen am Herd. Die Lösung: Die erwachsene Frau sollte Ausgleichssport betreiben, um gesund - also "gebärfreudig" - zu bleiben und für die Soldaten und Heimkehrer schön zu sein.

In seinem Forschungsprojekt will der Sportsoziologe die Umstrukturierungen und Neuerungen, aber auch die Kontinuitäten in den Sportorganisationen der "Ostmark" untersuchen. Beispielsweise fand das NS-Regime in Österreich bereits weitgehend autoritäre Strukturen im Sport vor. Schon im Februar 1934 war der gesamte österreichische Sport in der Sport- und Turnerfront zusammengefasst und auf ein Führerprinzip hin orientiert worden. Während Sportveranstaltungen, ob Skilauf oder Handball, waren Nazidemonstrationen keine Seltenheit. Und im Alpenverein oder auch im Skisport war die Arisierung schon vorweggenommen worden - "der Skiverband hatte schon Anfang der 20er-Jahre den Arierparagrafen eingeführt", so Marschik.

Nach dem "Anschluss" wurden jüdische Sportler entlassen - auch als Zuschauer wurden sie ab Oktober 1938 nicht mehr zugelassen. Die jüdischen Sportvereine wurden innerhalb von Tagen nach dem "Anschluss" aufgelöst und zwangsweise zum Sportverein Maccabi zusammengeschlossen. Und die Sportzeitungen vermeldeten bereits eine Woche nach dem "Anschluss", dass sie "judenfrei" wären.

In seinen Forschungen zum Fußball in Wien wurde dies von Zeitzeugen kaum kommentiert: "In den Interviews tauchte immer wieder die Aussage auf: Die Juden waren plötzlich weg, wir haben nicht gewusst, was mit ihnen passierte - wir wollten ja nur Fußball spielen", erzählt Marschik. Vonseiten der Akteure wurde Sport bewusst als etwas Neutrales konstruiert.

In jedem Fall waren die Sportler Teil der nationalsozialistischen Inszenierung. Die Bildsprache orientierte sich an Leni Riefenstahl; Idole wurden bewusst aufgebaut: Franz Binder von Rapid, der Radfahrer Ferry Dusika oder der Boxer Josef Weidinger. "Allerdings durften die österreichischen Idole nicht so groß werden wie die Sportler des Altreichs", berichtet Marschik, "das wurde gezielt gesteuert." Und gerade die Wiener Presse unterwanderte die Gleichschaltung auch manchmal. Sogar der Wiener Völkische Beobachter hätte sich beispielsweise in der Frage der Zusammensetzung des Fußball-Nationalteams auf die Seite der Wiener gestellt. Der Einfluss der Sportjournalistik sei dabei nicht zu unterschätzen, meint Marschik: Auf den Sportseiten konnte man - zwischen den Zeilen - Dinge lesen, die sonst undenkbar gewesen wären. Auch in seinem nächsten Projekt wird es daher darum gehen, "die Medien hier auch ein bisschen gegen den Strich zu lesen", sagt Marschik. (Heidi Weinhäupl/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 28./29..6. 2003)