Wien - Wie der Villacher Fasching zählen heimische Musikfestivals zu den heiteren Höhepunkten des Jahres. Und wie für den Kärntner Narrenauftrieb gilt das auch bei den Festivals weniger im humoristischen Sinne, sondern in der Interpretation von angeheitert. Sollte dabei ein Witz abfallen, ist das quasi ein Kollateralsegen. Oder Schaden.
Zurzeit ist es das viertägige Frequency-Festival in St. Pölten, das unter dem nach wie vor Publikum ziehenden Vorwand, Musik zu präsentieren, tausende vornehmlich junge Menschen anlockt. Und sie kommen - trotz der Musik. Schließlich sind es depperte Bands, die keiner braucht und kennt, die den Eintrittspreis in die Höhe treiben. Wie super die waren, lässt sich dann auf der FM4-Homepage nachlesen, die das Festival, wie jedes Jahr, begleitend abfeiert.
Dass vor den Bühnen oft weniger los ist als bei diversen Zerstreuungsanbietern dazwischen, illustriert die Prioritäten des Publikums. Hat die Zerstreuung ein gewisses Level erreicht, wird mit dicken Filzschreibern "Free Kisses" ins Dekolleté gemalt - ohne erkennbare Nachfrage zu generieren, obwohl es an lüstern dreinblickenden Jungmännern gar nicht mangelt.
Ob der Aufforderung dreier junger Damen, für den "Frieden zu ficken", nachgekommen wurde, ließ sich nicht verifizieren. Selbst investigativer Journalismus kennt Grenzen. Aber natürlich ist das ja nur lustig gemeint. Was haben wir gelacht. Wozu es für derlei aus dem Privatfernsehen bekanntes Brauchtum aber Musik braucht? Dieses wiederkehrende Rätsel bleibt ungelöst.
Doch bevor man über derlei Déjà-vus ins Grübeln kommt, nimmt einen die deutsche Band Kraftklub in Beschlag. Nicht musikalisch. Aber nachdem sie endlich ihre Instrumente fertig gestimmt hat, penetriert einen der Sänger hauptsächlich mit Geschwätz zwischen der Musik, die klingt, als hätte niederes Dienstleistungspersonal eine Feierabendkapelle gegründet. Macht nichts, es gibt ja noch Bob Mould.
Der hat mit seiner Band Hüsker Dü in den 1980er-Jahren ironischerweise die Geleise für derlei Festivals gelegt. In St. Pölten präsentierte der mittlerweile 51-jährige Gitarrist und Sänger das Album Copper Blue in seiner Gesamtheit.
Dieses hat er vor zwanzig Jahren mit der Band Sugar veröffentlicht. Damals eroberten Nirvana gerade die Welt - mit Musik, die Bands wie die 1987 aufgelösten Hüsker Dü zuvor noch nicht mainstreamtauglich gespielt hatten.
Der frühere Nirvana-Schlagzeuger Dave Grohl begleicht diese "Schuld" heute damit, dass er Mould im Vorprogramm seiner Foo Fighters präsentiert, ihn auf seinem letzten Album als Gast zum Mitmusizieren eingeladen hat und ihn aktuell immer wieder auf die Bühne bittet, um mit den Foo Fighters zu spielen.
Das Album, durch das Mould im energischen Trio donnert, wurde eben neu aufgelegt - und Mould ist unterwegs, um diese Nachricht zu verbreiten.
Trotz seines Auftritts vor vielleicht 200 Interessierten ist es, gemessen am Energielevel, wohl das beste Konzert am Donnerstag. Mitunter schon zu rastlos donnern Mould, John Wurster und Jason Narducy durch Songs wie A Good Idea, Fortune Teller oder das poppige If I Can't Change Your Mind. Ein Sturm down memory lane. Dann folgen Songs seines neuen, im Oktober erscheinenden Albums Silver Age, die in Aussicht stellen, dass dieser Sturm noch lange nicht vorbei ist.
Vom Winde verweht
Apropos heftiger Wind. Ein solcher schmälert das Vergnügen, weil er den Sound zusehends verbläst. Während das vor der Green Stage noch ein geringeres Übel ist, bedeutet es auf der großen Space Stage jede Menge Sand und Staub, der vor der Bühne aufgewirbelt wird - auch hier verweht der Wind die Musik.
Wobei das bei Tocotronic zum Beispiel auch schon egal ist. Die Hamburger Band wirkt bei ihrem Auftritt, als sei sie stehend k. o., ja, als hätte sie Sand ins Getriebe bekommen. In behäbigem Midtempo-Rock bieten sie einen Querschnitt aus ihrem Gesamtwerk, wobei Sänger Dirk von Lowtzow mitunter wie Herbert Grönemeyer bellt. Aber vielleicht ist daran auch der Wind schuld. Und k. o. zu sein war ja bei Tocotronic schon immer o. k.
Die US-Formation Wilco überzeugt anschließend mit progressiv gedeutetem Country-Rock - nicht ohne festzustellen, dass sich vor der Bühne nicht gerade die Massen überschlagen. Wohl auch deswegen ein schöner Auftritt.
In der Nacht sind dann Massen vor der Bühne, doch Brian Molko, Sänger der als Hauptact gebuchten Placebo, bricht nach nur einem Song ab. Ein Virus, heißt es in einem Statement, habe den Auftritt verunmöglicht.
Den hier fälligen Witz über den Zusammenhang von Placebo und Krankheit bitte selber ausdenken. (Karl Fluch, DER STANDARD, 18./19.8.2012)