Puppen, Stofftiere und Bälle finden sich im Zentrum für Entwicklungsförderung in fast allen Therapie-räumen. Auch "echte Tiere", zum Beispiel Hasen, sind dort im Einsatz.

Foto: Standard/Corn

Auch "echte Tiere", zum Beispiel Hasen, sind dort im Einsatz.

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Oft muss ein Kind einige Monate auf einen Therapieplatz in dem Zentrum im 22. Bezirk, das von Friedrich Brandstetter geleitet wird, warten.

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Die Haut auf Toms* Backen, Armen und Beinen zeugt von sonnigen Sommertagen - wie die seiner Schwester Anna*. Unter seinem blauen Schlapphut lugen Augen wie Scheinwerfer hervor. Jene zwischen zwei Zöpfen haben diesen Blick perfektioniert. Der Dreijährige spricht mal Deutsch, mal Englisch, wie die Fünfjährige. Doch Tom ist nicht so gesund wie sie. Bevor seine Mutter ihn auf das Sesselchen an einen Tisch gesetzt hat, auf dem er jetzt Holzkugeln vier Stockwerke einer Kugelbahn hinunterschickt, saß er im Rollstuhl. Wer genauer hinsieht, wird vielleicht Toms dünne Oberarme bemerken. Und dass seine Beine zwar ein wenig wippen, seine Zehen aber spitz zu Boden deuten.

Bis zum Alter von einem Jahr entwickelte sich Tom "ganz normal". Es vergingen die Monate, aber er schaffte es nicht, zu stehen. Zunächst hoffte seine Mutter Angela L., dass ihr Sohn einfach motorisch hinten nach war. Doch irgendwann ging sie ins Spital und holte sich dort eine Diagnose mit Schockwirkung ab: Tom leidet an spinaler Muskelatrophie. Muskelschwund - er war nicht einfach hinten nach. Er wird nie gehen lernen. Im Krankenhaus sagte man Frau L., ihr Sohn würde vielleicht nur zehn Jahre zu leben haben. Es war ein Faustschlag ins Gesicht.

"Die erste Stelle, wo ich positive Reaktionen erhielt, war hier", sagt Frau L. - im Zentrum für Entwicklungsförderung (Zef) im 22. Bezirk in Wien. Behinderte Kinder zwischen null und sechs Jahren können dort an Therapien teilnehmen, ihre Eltern werden betreut und beraten.

Insgesamt gibt es in Wien derzeit vier solcher Zentren. Jenes in der Langobardenstraße ist für Familien aus dem 22. und dem 2. Bezirk sowie für einige aus Niederösterreich zuständig. 687 Kinder wurden dort im Jahr 2011 betreut. 297 waren Neuzugänge - eigentlich mehr als verkraftbar, sagt Zef-Leiter Friedrich Brandstetter. Rund die Hälfte der Neuaufnahmen ist jünger als zwei Jahre. Bei geschätzt fünf bis zehn Prozent der Kinder in Österreich besteht Behandlungsbedarf, zwei Drittel bis drei Viertel davon sind Buben. "Sie sind einfach das schwächere Geschlecht", sagt Brandstetter, der knapp 40 Mitarbeiter hat. Angeboten werden Ergo-, Logo-, Physio- und Psychotherapie sowie Hippo-, Musiktherapie und Heilpädagogik. Auch eine "Waldgruppe" gibt es, die Ausflüge in die Lobau unternimmt. In der Regel erhält jedes Kind eine Stunde einer Therapieform pro Woche.

Tom besucht einmal wöchentlich die Physiotherapeutin. Er liebt die von der Decke baumelnde Schaukel in ihrem Behandlungszimmer, von der er Bälle in große Körbe wirft. Geht es einmal ruhiger zu, setzt er zum Beispiel Puzzles zusammen. Seine Betreuerin achtet darauf, dass Tom in Bewegung bleibt, obwohl er im Rollstuhl sitzt. Zur gleichen Zeit geht seine Mutter zur Elternberatung. "Das ist eine enorme Unterstützung", sagt L. Sie bespricht dort Alltagssituationen, lädt Probleme ab und fragt um Rat. "Ein Auffangbecken für meine Sorgen."

Die Behandlungskosten übernehmen im Zef je zur Hälfte die Krankenkasse und der Fonds Soziales Wien - oft eine wichtige Unterstützung. "Wir haben privat Ergotherapie gemacht. Das geht ins Geld", erzählt Andreas S. Als seine Tochter Lisa* drei Monate alt war, konnte sie ihren Kopf noch nicht heben. Ein Gentest erklärte, warum: Lisa hat einen seltenen Chromosomdefekt und entwickelt sich langsamer als andere Kinder. Die Viereinhalbjährige kann keine zusammenhängenden Sätze sprechen und braucht noch Windeln. Äußerlich ist Lisa nicht anzumerken, dass sie Gleichaltrigen in der Entwicklung hinterherhinkt. "Sie wird kein normales Leben führen können", schätzt Herr S. "Niemand - auch kein Arzt - weiß eigentlich so genau, was ihr hilft."

Musik beruhigt Lisa

Etwas haben ihre Eltern aber schon herausgefunden: Musik tut Lisa gut. Daher macht sie am Zef eine Musiktherapie. Ihre Therapeutin begrüßt und verabschiedet das Mädchen immer mit der Gitarre oder dem Klavier. Ein Ritual, das die Kleine gerne mitspielt. Manchmal läuft Lisa aber auch einfach schnurstracks auf ihr Lieblingsstofftier zu. Sie sei in der Stunde sehr konzentriert, sagt ihr Vater, und nachher "merklich ruhiger".

Lisa musste ungefähr ein halbes Jahr auf den Therapieplatz beim Zef warten. 2007 war die Wartezeit für Musiktherapie dort sogar dreimal so lange. Wer einen Ergotherapieplatz wollte, stand für 26 Monate auf einer Warteliste, für Heilpädagogik 20 Monate. Der Druck auf das Therapiepersonal war so groß, erklärt Zef-Leiter Brandstetter rückblickend, dass man die Regelung einführte, ab sechs Monaten Wartezeit an andere Einrichtungen zu verweisen.

Alexandra S. hatte Glück. Sie bekam sehr rasch einen Untersuchungstermin für ihren Sohn Jonas*. Jonas mied andere Kinder, war schlapper als andere und oft sehr verkrampft. Beim Zef erfuhr die heute 32-Jährige, dass Jonas unter einer Wahrnehmungsstörung leidet. Das Gehirn des Fünfjährigen kann Reize und Empfindungen nicht richtig zuordnen. Die Ergotherapie für Jonas hat das Ziel, dass er "Dinge, die er meidet, weil er sich nicht traut, nicht mehr meiden muss", sagt seine Mutter. Sie ist überzeugt, dass er bis zum Erwachsenenalter aufholt. Eine seiner Therapieübungen ist zum Beispiel, etwas aus einer Wanne voller Bohnen herauszukramen. Auch bei der Waldgruppe ist Jonas mit dabei. Seine Angst vor Tieren, von denen es im Zef auch einige gibt, hat sich sogar verringert.

Tom dagegen ist ein Tiernarr. "Goodbye fishes", sagt er Richtung Aquarium im Eingangsbereich, als seine Mutter ihn im Rollstuhl Richtung Ausgang schiebt. Kurz vor der Glastür ruft er plötzlich aus: "Oh, the birds!" Die Mutter rollt den Buben zum riesigen Vogelkäfig zurück, wo gerade ein kleines Schnäbelchen auf Erwachsenenaugenhöhe an einer Scheibe Gurke knabbert. "Look, it has got a cucumber", ruft Tom erstaunt aus. "Yes, indeed", sagt seine Mutter, lässt ihm einen Moment des Staunens und startet einen zweiten Heimgehversuch. "Goodbye birds", ruft Tom. (Gudrun Springer, DER STANDARD, 18.8.2012)