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Von Grün zu Gier ist es nur ein kleiner Schritt: Demonstration in Manila gegen die Rio+20- Konferenz im Juni.

Foto: dapd/Bullit Marquez

Hat die Beschleunigung in eine falsche Richtung noch Zukunft? Ihr ist der Luxus ruhigen Überlegens entgegenzusetzen, wie ihn die Karlsruher Richter praktizieren. Ein Plädoyer gegen das Wachstum und fürs Zaudern.

 

Die Politik des Aufschubs hat zwei Seiten. Sie kann für Problemverschiebung und Lösungsverweigerung stehen - aber eben auch für kluge Abwägung und Reflexion. Was die erste - negative - Variante angeht, wurde mit dem "Nachhaltigkeitsgipfel" in Rio de Janeiro ein neues Niveau erreicht. Zumindest was die staatliche Ebene betrifft, gilt: Man beschließt gar nichts - und selbst das nur unter dem Vorbehalt, dass Kosten und Nutzen berücksichtigt werden. Das Nicht-Dokument "The Future We Want" ist nichts anderes als eine Katastrophe. Eine langfristig verantwortbare Politik wird aufgeschoben zugunsten einer kurzsichtigen Gleichgültigkeit gegenüber dem, was nötig und möglich wäre. Schlimm.

Auch die zweite - positive - Variante einer Politik des Aufschubs lässt sich geografisch verorten: in Karlsruhe. Dort sitzt das deutsche Bundesverfassungsgericht, und inmitten nervöser Märkte und noch nervöserer Politiker nimmt sich die höchste Instanz des Landes bei seiner Entscheidung zum Thema "Euro-Rettung" etwas, das niemand zu haben glaubt: Zeit.

In seinem Buch Über das Zaudern schreibt Joseph Vogl: "Das Bild der großen Gefahr konzediert wenig Wahl, denunziert das Zaudern und macht die weitere Aussicht im prägnanten Wortsinn fatal." Die Karlsruher Richterinnen und Richter werden das wiedererkennen, denn sie tun etwas, das scheinbar gegen jede Vernunft ist: Sie zaudern. Sie nehmen sich heraus, die Wahl zu haben, Optionen abzuwägen und dann zu entscheiden. Das schockiert Märkte und Politiker, weil diese Vorgehensweise im krassen Widerspruch zu zentralen (wirtschafts-)politischen Dogmen steht. Das ist empirisch gemeint: Schnell gilt als anstrebenswert, mehr gilt als gut, effizient gilt als fortschrittlich.

Das gilt auch für die Diskussion um Wachstum - ein Feld, an dem sich wirtschaftliche und sozial-ökologische Themen berühren wie in kaum einem anderen Bereich. Aktuell erleben wir eine paradoxe Parallelität von Wachstumskritik und Wachstumseuphorie. Es ist erstaunlich, mit welcher Intensität aktuell über Wachstumsgrenzen diskutiert wird. Wachstumsskeptische Publikationen häufen sich.

Der deutsche Bundestag hat eine Enquete-Kommission zum Thema eingerichtet. Im Herbst findet in Wien zum zweiten Mal die Konferenz "Wachstum im Wandel" statt. Auch der mediale Mainstream berichtet immer öfter über Zweifel am Wachstum. Mittlerweile ist sich sogar die Frankfurter Allgemeine Zeitung nicht zu schade, über Wachstumskritik zu schreiben. Ist das Thema 40 Jahre nach der Veröffentlichung der Grenzen des Wachstums etwa in der Mitte der Gesellschaft angekommen?

Das Gegenteil ist der Fall. Wachstum bleibt die heilige Kuh nicht nur der Wirtschaftspolitik. Herr Hollande hat mit diesem Thema die Präsidentenwahl gewonnen. Eurokrise? Staatsschulden? Arbeitslosigkeit? Wachstum soll es richten. Die "Lösung": nachhaltiges Wachstum!

Die in Rio erneut formulierten Hoffnungen auf eine "Green Economy", in der sich Umweltbelastung und Wirtschaftswachstum aufgrund besserer Technik versöhnen, basieren auf fundamental falschen Voraussetzungen.

Nur "absolute Entkopplung" ist ein Beitrag zur Versöhnung von Wirtschaftsexpansion und Umwelt, also eine tatsächliche materielle Schrumpfung der ökologischen Lasten.

Da wäre es hilfreich, nicht innovationsbesoffen auf Beschleunigung zu setzen, sondern zu entschleunigen und nachzudenken. Das gilt nicht nur für die Wachstumseuphoriker. So wie der politische und wissenschaftliche Mainstream Umweltgrenzen nicht zur Kenntnis nehmen will, tun sich ökologische Kritiker oft nicht leicht mit real existierenden ökonomischen Problemen.

Zum Beispiel: Wenn es arbeitssparenden technischen Fortschritt gibt (und den gibt es), bedeutet das Ausbleiben von Wachstum unweigerlich Erwerbsarbeitslosigkeit. Da fährt die Eisenbahn drüber. Das ist natürlich anders, wenn man Arbeit anders verteilen würde. Also (wie oft muss man es noch sagen?): Wir haben ein Verteilungsproblem.

Wahrscheinliche Wunder

In einer globalisierten Wirtschaft mal eben auf breiter Front die Arbeitszeit zu reduzieren, ist wohl aktuell kein plausibles Szenario. Oder doch? Die britische New Economics Foundation hat gerade eine Studie mit dem sprechenden Titel 21 Hours vorgelegt: Dort wird eine radikale Abkehr vom herrschenden Arbeitszeit modell gefordert. 21 Stunden Wochenarbeitszeit?! Ja, das klingt nicht sehr wahrscheinlich. Der Glaube, dass das Wachstumsparadigma mit globaler Nachhaltigkeit vereinbar ist, hat freilich ähnlich utopischen Charakter.

Des Pudels Kern: Die Lebens lügen des Wachstumsmodells werden im politischen Mainstream gar nicht diskutiert.

Es wäre töricht, hier vom Bundesverfassungsgericht die Rettung zu erwarten. Aber die Weigerung der Richter, sich vom Bild der großen Gefahr zur Eile zwingen zu lassen, ist zumindest ein Zeichen der Hoffnung. Es signalisiert, dass Zaudern und Reflektieren möglich ist. Diese Haltung könnte auch den wachstumspolitischen Diskurs befruchten. Abwegig? Wie sagte Herman Daly einmal so schön: Politische Wunder sind weitaus wahrscheinlicher als physikalische. (Fred Luks, DER STANDARD, 18./19.8.2012)