
Hermann Hesse, "Ich gehorche nicht und werde nicht gehorchen. Briefe 1881- 1904". Hrsg. von Volker Michels, € 40 / 640 Seiten, Suhrkamp, Berlin 2012
"Schwer zu behandeln, leidet an Größenwahn, fühlt sich zu Großem berufen, träumt von großen dichterischen Erfolgen" - so steht es wenig optimistisch im Aufnahmebericht der Irrenanstalt Stetten, wohin 1892 der damals 15-jährige Hermann Hesse gebracht worden war. Tatsächlich wollte der nach Ansicht seiner Eltern schwer erziehbare Jugendliche schon in diesem frühen Alter Dichter werden "oder gar nichts". Am Ende wurde er der weltweit erfolgreichste deutsche Autor des 20. Jahrhunderts
Pünktlich zum 50. Todestag startet Hesses Hausverlag Suhrkamp eine neue Briefausgabe. Der erste Band enthält 200 Schreiben des Dichters aus den Jahren 1881 bis 1904 - der Zeit also, als, in der Sprache des Demian -Romans, der Vogel sich aus dem Ei kämpfte und aus dem entlaufenen Maulbronner Zögling ein Erfolgsdichter wurde. Hesse waren diese Zeugnisse seiner Kindheit und Jugend so wichtig, dass er sie sorgfältig geordnet in einem Schrank seines Schlaf- (und Sterbe-)Zimmer in der Casa Hesse in Montagnola aufbewahrte, wo sie nach seinem Tod gefunden wurden.
Die meisten Schreiben wurden in früheren Hesse-Brief-Ausgaben wiedergegeben, doch ist es immer wieder erschütternd zu lesen, wie der von seinen Eltern in Erziehungsanstalten und Irrenhäuser gesteckte Jugendliche verzweifelt um seine Freiheit und sein Recht aufs Schreiben kämpft - wie in seinem Brief an den Vater, den evangelischen Missionar Johannes Hesse, vom 14. 9. 1892 aus der Irrenanstalt Stetten: "Sehr geehrter Herr! [...] 'Vater' ist doch ein seltsames Wort, ich scheine es nicht zu verstehen. Es muß jemand bezeichnen, den man lieben kann und liebt, so recht von Herzen. Wie gern hätte ich eine solche Person! Könnten Sie mir nicht einen Rat geben ... Ihre Verhältnisse zu mir scheinen sich immer gespannter zu gestalten, ich glaube, wenn ich Pietist und nicht Mensch wäre, wenn ich jede Eigenschaft und Neigung an mir ins Gegenteil verkehrte, könnte ich mit Ihnen harmonieren. Aber so kann und will ich nimmer leben und wenn ich ein Verbrechen begehe, sind nächst mir Sie schuld, Herr Hesse, der Sie mir die Freude am Leben nahmen. Aus dem 'lieben Hermann' ist ein andrer geworden, ein Welthasser, eine Waise, deren 'Eltern' leben. / Schreiben Sie nimmer ' Lieber H.' etc., es ist eine gemeine Lüge. [...] / H. Hesse, Gefangener im Zuchthaus zu Stetten, wo er 'nicht zur Strafe' ist./ Ich beginne mir Gedanken zu machen, wer in dieser Affaire schwachsinnig ist. Übrigens wäre es mir erwünscht, wenn Sie gelegentlich mal herkämen."
Johannes und Marie Hesse waren als brave Pietisten vom Freiheitsdrang ihres Sohnes heillos überfordert. Eine eher gewöhnliche Pubertätskrise Hermanns bauschten sie zur krankhaften Rebellion gegen Gott auf. Nur um Haaresbreite entging Hesse dem Schicksal, als unheilbar Geisteskranker für immer "weggesperrt" zu werden. Aber auch nach seiner Entlassung war es noch ein steiniger Weg, bis er 1903 mit dem Peter Camenzind seinen ersten Bestseller landete und am Bodensee die Jahre seiner fatalen ersten Ehe anbrachen.
Auf zehn Bände ist die neue Brief-Edition angelegt, bis 2022 soll sie abgeschlossen sein. Als Ergänzung der Sämtlichen Werke löst sie zugleich die vierbändige Briefausgabe aus dem Jahr 1986 ab. Sechs stattliche Bände mehr also - und trotzdem wirkt die neue Edition halbherzig: weil auch sie nur eine Auswahl anbietet und auf die Briefe von Hesses Adressaten verzichtet.
Der Forschung wäre mit einer auf Vollständigkeit zielenden digitalen Ausgabe wohl besser gedient, die noch dazu problemlos um neue Funde aktualisierbar wäre. Dem Lesepublikum aber, das sich etwa für Hesses Jugendjahre interessiert, kann man eigentlich nur zu dem noch immer als Taschenbuch lieferbaren Doppelband Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert raten, da er auch die in ihrem religiösen Eifer erschreckenden Schreiben der Eltern enthält. (Oliver Pfohlmann, Album, DER STANDARD, 18./19.8.2012)