Zeitungen in Russland selbst und in Europa haben sich in ihren Samstag- bzw. Wochenendausgaben mit dem Schuldspruch gegen die Pussy-Riot-Aktivistinnen in Kommentaren auseinandergesetzt. Im Folgenden Zitate daraus:

"Nowaja Gaseta" (Moskau, regierungskritisch):

"Das Urteil ist ein Teil des Dammes, der die Macht verteidigt, vor dem Hintergrund fallender Zustimmungswerte des ersten Mannes im Staat, des erwachenden politischen Bewusstseins der urbanen Mittelklasse, säkularer Medien und der Modernisierung des Bewusstseins. Den Boden dieses Dammes bilden bereits die Gesetze zur Versammlungsfreiheit und über ausländische Agenten sowie das künftige Gesetz über Freiwillige (NGOs, Anm.) und andere Überraschungen aus den ersten Monaten des neuen Präsidenten. Mit diesem Urteil beweist die Führung, dass sie die Repressionen fortsetzen wird, manchmal auch unter dem Banner der Religiosität."

"de Volkskrant" (Amsterdam):

"Pussy Riot schien ein leichtes Ziel zu sein für den Zorn des Präsidenten. Allein schon das Genre der Band - feministischer Punk - wird von vielen Russen assoziiert mit 'westlicher' Dekadenz. Wahrscheinlich dachte (Präsident Wladimir) Putin, mit seinem harten Auftreten könne er ohne das Risiko öffentlicher Entrüstung zeigen, wer der Boss ist. Durch das knallharte Vorgehen gegen Pussy Riot ist jedoch im In- und Ausland eine empfindsame Saite getroffen worden. Nach zwölf Jahren Putin wünschen sich viele Russen ein Regime, das weniger repressiv und korrupt ist. Die Macht Putins ist zwar noch nicht ernsthaft bedroht - auch weil er politische Alternativen zu seinem System im Keim erstickt. Doch wer seine Faust gegen drei wehrlose junge Frauen einsetzt, verliert ernsthaft an Autorität."

"Luxemburger Wort":

"Nach dem Richterspruch im international beachteten Strafprozess gegen die Künstlerinnen Nadeschda Tolokonnikowa, Maria Aljochina und Jekaterina Samuzewitsch erntet Russland aus dem westlichen Ausland durchweg negative Reaktionen. In der Tat dürften die drei Sängerinnen mit ihrem Protest in der Erlöserkathedrale in Moskau am 21. Februar die Gefühle von Gläubigen verletzt haben. Und mit ihrem kremlkritischen Auftritt bewusst ein Strafverfahren und die damit verbundene mediale Aufmerksamkeit in Kauf genommen haben. (...)

Mit Anzeichen von Härte wie der nun erfolgten Einweisung der Demonstrantinnen in ein gefängnisähnliches Erziehungs- und Straflager macht sich Russlands Präsident aber keine Freunde und Bewunderer. So gut die Entrüstungswelle in Europa nach dem Moskauer Urteil auch gemeint ist: Sie droht, die bestehenden Differenzen zwischen europäischem und russischem Werteverständnis weiter zu vertiefen. Denn viele Menschen in Russland haben mit der Demokratie in den Wende-Jahren unter Jelzin so vernichtende Erfahrungen gemacht, dass sie die Stabilität unter Putin schätzen. Dieses Dilemma wird Russland noch lange Jahre beschäftigen."

"tageszeitung" (Berlin):

"Vorbei ist die Zeit, als das System Putin es noch verstand, seine fragwürdige Politik wohlmeinenden Zaungästen als demokratisch, zumindest als rational zu verkaufen. Diesmal hat sich der Kreml gleich in beide Knie geschossen. Wir können nur vermuten: In den Etagen der Macht muss erhebliches Chaos herrschen. Auch die orthodoxe Kirche, die sich zum Richter aufschwingt, hat wie ihr weltliches Pendant gezeigt, dass sie nicht Trägerin und Hüterin moralischer Autorität ist. Auch sie leidet an Schwäche und hat der Gesellschaft keine frohe Botschaft, sondern nur Rachegedanken anzubieten. Sonst hätte sie, statt den Kreml um Hilfe beim Strafvollzug zu bitten, Gnade walten lassen. Beide Institutionen leiden unter chronischem Muskelschwund."

"Berliner Zeitung":

"Wer beobachtet, wie alle Prozessbeteiligten nach Stunden, die sie im Stehen die Ausführungen des Gerichts verfolgen mussten, erschöpft ins Wanken geraten, bekommt ein anschauliches Bild vom Zustand des Landes. Es ist aus dem Gleichgewicht geraten, nicht weil drei junge Frauen die Staatsmacht herausgefordert oder die Gefühle von Gläubigen verletzt haben, sondern weil die Ideen- und Perspektivlosigkeit einer kleinen herrschenden Clique sich wie ein Alpdruck über das Land gelegt hat." (APA, 18.8.2012)