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Der aktionistische Künstler Piotr Pawlenski weist mit dem Zunähen seines Mundes auf die Unterdrückung der Bürgerrechte hin.

Foto: Reuters

Eine Ausstellung im Moskauer Kulturzentrum Artplay, "Kulturfestivals" vor Gerichten und zahllose Kunstwerke, die den inhaftierten Frauen von Pussy Riot gewidmet wurden: Der Prozess bewegte zuletzt insbesondere die Kunstszene. Und das Urteil, so der Tenor in Moskau, wird sich auch auf die bildende Kunst in Russland auswirken.

Denn Richterin Marina Syrowa hat einen Präzedenzfall gesetzt. Seit fast drei Jahrzehnten war kein Künstler für seine Arbeit in sowjetische oder russische Gefängnisse gegangen. Das letzte Urteil betraf den Karikaturisten Wjatscheslaw Sysojew, der 1983 für vermeintlich pornografische Zeichnungen zwei Jahre Lagerhaft ausfasste. Nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Regimes reagierte der neue Staat dann gar nicht - dabei zertrümmerten Moskauer Aktionskünstler Anfang der 1990er-Jahre Ausstellungen, verprügelten Kuratoren oder bissen Passanten.

Erst in der Ära Putin wurden Geldstrafen verhängt, 2010 etwa im Fall einer religionskritischen Ausstellung, die zu einem Schuldspruch der Moskauer Kuratoren Andrej Jerofejew und Jurij Samodurow wegen Schüren religiösen Hasses führte.

Die nun verurteilten Mitglieder von Pussy Riot hatten spektakulär gegen diesen Prozess protestiert: Mit Performancekünstlern von der Gruppe Wojna (Krieg) hatten sie im Gericht ein unautorisiertes Konzert gegeben und zur Urteilsverkündung dort tausende Küchenschaben ausgesetzt. Konsequenzen blieben aus. Mit dem Urteil wird deutlich, dass Politkunst nun zu mehreren Jahren Haft führen kann - selbst wenn nach Ansicht führender Juristen gar kein strafrechtlich relevantes Delikt vorliegt. Die Wirksamkeit dieser neuen staatlichen Drohkulisse gilt als fraglich: Es gibt keine Anzeichen, dass sich die Kunstszene einschüchtern lässt: Auch am Wochenende demonstrierten zahlreiche Exponenten unweit des Gerichtsgebäudes.

In Erwartung des Schuldspruchs wurde Pussy Riots inkriminierter Auftritt in der Kathedrale zudem für den mit 40.000 Euro dotierten Kandinskij-Kunstpreis nominiert. Eine Auszeichnung der Punk-Gruppe gilt als möglich, prominente Künstler wie Aristarch Tschernyschow erachteten diese sogar als unausweichlich.

Gleichzeitig ist mit weiterer Radikalisierung und Politisierung der Kunst in Russland zu rechnen. "Der Ort für Kunst wird sich noch stärker auf die Straße verlegen", erklärt die Moskauer Galeristin Natalja Tamrutschi, die in ihrer Offenen Galerie mit dem künstlerischen Nachwuchs arbeitet. Leonid Baschanow, der künstlerische Leiter des einflussreichen Staatlichen Zentrums für zeitgenössische Kunst, sekundiert: "Diese stumpfsinnige Entscheidung gibt oppositionellen Tendenzen in der bildenden Kunst neuen Auftrieb."

Keine Reaktion auf das Urteil erwartet sich Baschanow hingegen von jenen künstlerischen Institutionen, die vom Staat abhängen. Die politische Vorsicht der staatlichen Kunsttanker hat einen sehr profanen Grund: Neokulturminister Wladimir Medinskij, einem ehemaligen Kreml-Propagandisten, wird ein Naheverhältnis zu Putin und zur russisch-orthodoxen Kirche nachgesagt. Medinskij ist seit Mai im Amt. Bisher war von einer neuen Kulturpolitik zwar nichts zu sehen, es lässt sich aber nicht ausschließen, dass der Minister Kunstinstitutionen auf stramm russisch-orthodoxen Kreml- Kurs bringen möchte. (Herwig G. Höller aus Moskau /DER STANDARD, 20.8.2012)