STANDARD: Würden Sie Neugierigen empfehlen, einen Gentest zur Abklärung potenzieller Krankheitsrisiken zu machen?

Nikolas Rose: Diese Tests mögen für manche interessant erscheinen, haben aber keinerlei medizinische Relevanz. Das Problem mit den genetischen Analysen ist, dass mit ihnen praktisch nichts anzufangen ist. Es wird einem gesagt, man habe für diese und jene Krankheit ein erhöhtes Risiko. Daran geknüpft sind Empfehlungen wie: Mach mehr Sport, trink nicht so viel Alkohol. Also lauter Dinge, die man ohnehin tun sollte. Ob diese Tests in Zukunft eine größere Bedeutung haben werden, ist in der Wissenschaft umstritten.

STANDARD: Was denken Sie?

Rose: Ich glaube nicht. Der Zusammenhang zwischen der genetischen Grundausstattung und den häufigsten Erkrankungen ist komplizierter als zunächst angenommen. Das Risiko für Erkrankungen kann eine genetische Grundlage haben. Diese liegt aber womöglich nicht in der DNA, sondern ist das Ergebnis epigenetischer Veränderungen. Das sind Veränderungen der Genexpressionen. Sämtliche Umwelteinflüsse, die auf uns seit der Befruchtung der Eizelle einwirken, wie Ernährung und Stress, beeinflussen die Art, wie der Körper die im Erbgut gespeicherten Informationen nutzt. Diese epigenetischen Veränderungen sind es wahrscheinlich, die das Risiko für Erkrankungen steigern oder senken. Wir wissen, dass jede Zelle im Körper eines Menschen die gleiche DNA-Sequenz aufweist. Trotzdem entwickeln sich einige zu Herzzellen, andere zu Leberzellen. Das Entscheidende ist also, wie die DNA interpretiert wird. Der Schlüssel zu unserem Körper liegt nicht nur in den Genen.

STANDARD: Die Genforschung wird dennoch massiv gefördert. Ist das überproportional?

Rose: Die Antwort darauf hängt vom Zugang ab. Wenn man die globale Perspektive betrachtet, glaube ich nicht, dass uns die Genetik in irgendeiner Weise helfen wird, die häufigsten Erkrankungen besser zu verstehen. Genetik wird nicht erklären, warum Menschen an Malaria erkranken und wie man die Krankheit bekämpfen kann. Sie wird nicht helfen, die Kindersterblichkeit zu reduzieren. Sie nützt auch nicht, um Ungleichheiten bei Erkrankungen innerhalb von Ländern und Städten zu erklären. In Glasgow zum Beispiel liegt die Lebenserwartung von Männern in einigen Vierteln bei 52 Jahren, in anderen bei 75. Das hat nichts mit Genen zu tun.

STANDARD: Aus welcher Perspektive kann Genforschung sinnvoll sein?

Rose: In einem viel eingeschränkteren Sinn könnte sie in Wohlstandsgesellschaften dazu beitragen, herauszufinden, welche Behandlungen bei spezifischen Erkrankungen erfolgversprechender sind. Zum Beispiel bei bestimmten Krebsarten. Dabei geht es weniger darum, Wissen aus der Entschlüsselung der DNA zu nutzen. Interessanter ist die Sequenzierung von Tumorzellen, die es erlaubt, Medikamente gezielter einzusetzen. In vielen Fällen sind auch hier die Erwartungen zu hoch gesteckt. Aber es gibt doch bemerkenswerte Erfolge. Die Therapien werden künftig von Kranken, die gut versichert sind oder sich die Behandlung leisten können, in guten Spitälern in Anspruch genommen werden.

STANDARD: Hat die vollständige Entschlüsselung des menschlichen Genoms durch das Humangenomprojekt irgendwelche verwertbaren Ergebnisse für die Medizin gebracht?

Rose: Das menschliche Genom zu verstehen hat geholfen, einige grundlegende Aspekte von Erkrankungen besser zu verstehen. Es war möglich, Techniken und Tests zu entwickeln um seltene genetische Erkrankungen besser zu diagnostizieren. Aber hat es uns irgendeinen Vorteil für die Gesundheitsversorgung selbst gebracht? So gut wie gar keinen. Die große Frage ist, wie die Zukunft aussieht: Manche Experten sagen, wir sollten nicht so schnelle Resultate erwarten. Der Hype um die Entschlüsselung des Genoms hat übertriebene Hoffnungen geweckt. Es geht also nicht um Durchbrüche in fünf oder zehn Jahren, sondern eher in 20 oder 40.

STANDARD: Um Unternehmen wie DeCodeMe das Überleben zu ermöglichen, ist das zu lang.

Rose: Deswegen bezweifle ich, dass DeCodeMe und 23andMe weitere fünf Jahre überleben werden, außer vielleicht als eine Art Hobby für Menschen, die mehr über ihre genetische Familiengeschichte erfahren wollen. Allerdings wäre es unglücklich, wenn Investoren sich nun wegen der fehlenden Resultate vollständig aus dem Gebiet der Genetik zurückziehen und irgendwo anders versuchen, eine neue Blase anzufachen. Das würde nur zu mehr Misstrauen zwischen der breiten Bevölkerung und den involvierten Wissenschaftern und Experten führen. Vor allem jetzt, da man schon so viel ausgegeben hat. Vielleicht wäre es schon hilfreich, wenn Experten die Diskussion über die Genetik etwas ehrlicher und demütiger führen. Wir müssen anerkennen, dass die meisten Erkrankungen ziemlich komplexe Angelegenheiten sind. (András Szigetvari, STANDARD, 17.8.2012)