Eine Woche nach der Onlinebestellung bei dem isländischen Unternehmen DeCodeMe liegt ein graues Päckchen im Briefkasten. In der Sendung befindet sich der Gentest, der zeigen soll, wozu das eigene Erbgut taugt. Die Probe ist in zwei Minuten genommen: Mit zwei mitgelieferten Spachteln muss die Wange gründlich abgeschabt werden. Ein bisschen Spucke ist die Eintrittskarte in die Welt der genetischen Risiken.
DeCodeMe bietet Tests zur Abklärung von 47 genetischen Risiken an. Neben Antworten darauf, wie wahrscheinlich es ist, eine Glatze zu bekommen und nikotinsüchtig zu werden, wird das Erbgut auf die Anfälligkeit für rund drei Dutzend schwere Erkrankungen untersucht. Ermittelt wird das Risiko für Diabetes und Hodenkrebs, die Wahrscheinlichkeit, einen Herzinfarkt zu bekommen oder eine Gehirnblutung zu erleiden. Aber will man wirklich wissen, dass man im Alter an Alzheimer erkranken wird? Bei einer letzten Zigarette vor der Postfiliale fällt der Blick noch einmal auf den Rücksendeumschlag. Wie hat die Freundin noch gesagt: "Mach den Test nicht, die Resultate werden dich nur verrückt machen."
Resultate nach ein paar Wochen online
Vor fünf Jahren begannen Unternehmen wie 23andMe, DeCodeMe und Navigenics, Konsumenten direkte Gentests anzubieten. Der Ablauf ist simpel: Der Kunde bestellt online einen Test, nimmt eine Probe und schickt sie retour. Die Resultate sind ein paar Wochen später im Internet abrufbar. Nach der Gründung der Biotechnikfirmen, die einen direkten Einblick ins Erbgut versprachen, entstand ein regelrechter Hype um die Branche. Versprochen wurde ein Umbruch im Gesundheitswesen: "Die Feststellung genetischer Risikofaktoren wird die Medizin in den kommenden drei bis fünf Jahren komplett revolutionieren. Die meisten gebildeten Menschen im Westen werden dann von sich Genanalysen erstellen lassen", kündigte Kári Stefánsson, Mitbegründer von DeCodeMe, an.
Inzwischen drängen weitere Unternehmen auf den Markt, die Verbrauchern Aufklärung über schlummernde Genrisiken via Internet anbieten. So will sich in Kalifornien das Start-up Telome Health etablieren. Telome Health will via Internet Telomermessungen anbieten. Telomere sind eine Art Schutzkappe über der DNA. Die Länge der Telomere soll Auskunft über bestimmte Krankheitsrisiken geben. Darüber hinaus verspricht Telome Health sogar, Aussagen zu der statistischen Lebenserwartung von Interessierten treffen zu können. Aber was taugen solche Online-Produkte? Der Selbsttest soll erste Antworten liefern.
Einen Monat dauert es, ehe die Mail mit dem Betreff "Analyses ready" eintrifft. Die erste Prüfung besteht DeCodeMe problemlos: Die festgestellte genetische Augenfarbe (Braun) ist richtig. Nach einem Blick auf die eher harmlosen Gallensteine (Gefahr niedrig), kommen die Schwergewichte Alzheimer, Lungen- und Pankreaskrebs.
Verloren im Facebook für Kranke
Auch sie sind schnell abgehakt, denn das festgestellte Risiko ist gering. Aber die Gefahr für einen Herzinfarkt ist stark erhöht (54,4 Prozent gegenüber einem Durchschnittsrisiko bei weißen Europäern von 42 Prozent). Das Risiko für eine gefährliche Ausdehnung der Bauchaorta ist um 50 Prozent höher als in der Restbevölkerung. Absoluter Negativwert ist das dreifach erhöhte Risiko für eine chronische Darmentzündung. Die Nervosität weicht der Verunsicherung. Wie soll man die Zahlen interpretieren? Ist es notwendig, gleich zum Arzt zu rennen? DeCodeMe gibt nur wenig hilfreiche Tipps dahingehend ab, was Kunden und Patienten mit den Resultaten anfangen sollen. Auf der DeCodeMe-Seite gibt es Empfehlungen wie "Mach mehr Sport" und "Rauche weniger". Darauf wäre man allerdings auch ohne den wissenschaftlichen Hightechtest gekommen.
Vielleicht wissen andere Rat: Auf der Webseite von DeCodeMe können sich Verbraucher vernetzen und sich über ähnliche Risikoprofile austauschen. Diese Applikationen, die es auch bei 23andMe gibt, setzen auf die Stärken sozialer Netzwerke und sehen nicht nur zufällig so aus wie Facebook. Doch die kritische Masse an Menschen, die notwendig wäre, um das Facebook für Kranke am Laufen zu erhalten, fehlt. So stammt der letzte Beitrag zum Thema Herzinfarkt bei DeCodeMe vom Mai 2010 und ist von einem Administrator geschrieben. Und unter dem Suchwort "Austria" gibt es im Kreis der potenziell kranken Freunde keinen einzigen Treffer. Der letzte Ausweg ist die Onlineberatung von DeCode. Eine E-Mail, in der die Angst geschildert wird, an einem Herzinfarkt zu sterben, und man um Ratschläge bittet, bleibt unbeantwortet.
An dieser Stelle würde man gerne mit DeCode-Urvater Stefánsson sprechen. Ein Termin mit ihm wird in der Zentrale von DeCodeMe in Reykjavík vereinbart. Das graue Gebäude liegt nur wenige Schritte von der Hauptuniversität entfernt. Durch ein Missverständnis kommt das Gespräch nicht zustande. Stefánsson sagt ein Telefoninterview zu, das allerdings in einer Beschimpfungsorgie endet. "Deutsche Journalisten sind hinterhältig", beschwert er sich, noch ehe das Gespräch richtig beginnt, und "Österreich ist noch schlimmer, weil mickrig und in der Weltgeschichte völlig unbedeutend". Dann legt er auf.
Stefánsson ist bekannt für solche exzentrischen Ausfälle. Doch auch die anderen Unternehmen üben sich in Gesprächsverweigerung: 23andMe sagt ein Interview mit einer Ärztin in letzter Sekunde wegen Terminproblemen ab. Gibt es denn gar niemand anderen, mit dem man sprechen könnte? "Leider nein." Bei Telome Health erklärt sich Geschäftsführer Lennart Olsson bereit, Fragen schriftlich zu beantworten. Nachdem er sie erhält, meldet er sich nie wieder. Die Branche ist schweigsam. Hinter der Zurückgezogenheit dürfte eine gehörige Portion Nervosität stecken. Denn die Genforscher sind in der Krise.
DeCode scheitert an der Börse
Der Niedergang lässt sich am Beispiel von DeCode gut illustrieren: Das 1996 gegründete Unternehmen zog rasch weltweite Aufmerksamkeit auf sich. Insbesondere ein in Island geplantes Projekt, das DeCode beinahe unbeschränkten Zugang zu isländischen Patientenakten und Gen-proben geben sollte, zog Investoren an. Nach der Jahrtausendwende ging DeCode erfolgreich an die Technologiebörse Nasdaq.
Doch das Projekt zur Risikoanalyse des isländischen Genpools scheiterte am Widerstand von Experten und der isländischen Opposition. Miserable Geschäftszahlen verdarben Aktionären den Appetit auf DeCode - der Aktienpreis stürzte von über 20 Dollar je Papier auf einen Wert von 23 Cent ab. 2009 war das Unternehmen schließlich bankrott und stellte einen Insolvenzantrag nach Chapter 11. Die kalifornische Investmentgruppe Saga erwarb DeCode, wodurch zumindest der Kernbereich des Unternehmens, die Online-Gentestung und Forschung, erhalten blieben und Kári Stefánsson seinen Job behalten durfte.
Die Misere ist allerdings nicht auf DeCodeMe beschränkt: 23andMe musste 2009 wegen mangelnden Kundeninteresses und schlechter Geschäftszahlen zahlreiche Mitarbeiter abbauen und restrukturieren, obwohl in das Unternehmen auch Millionen der Suchmaschine Google (Google-Gründer Sergey Brin ist mit einer 23andme-Mitbegründerin verheiratet) stecken. Und bei Telome Health geht entgegen vielversprechenden Ankündigungen auf der Homepage bisher wenig weiter - nach eigenen Angaben sollten die Telomertests schon käuflich sein, bisher wurde der Start des Projekts aber immer wieder verschoben.
Warum werden die von der Branche angebotenen Produkte nicht stärker genutzt - ist die Revolution ausgeblieben? Wer nach Antworten sucht, wird bei Jeanette Erdmann, einer Genetikerin an der Universität Lübeck, fündig. "Ich halte von all diesen Untersuchungen, wie DeCodeMe sie anbietet, überhaupt nichts", sagt Erdmann. "Das verwirrt Patienten nur und bringt in der individuellen Einschätzung eines Krankheitsrisikos gar nichts."
Wissenschafter zweifeln an den Tests
Tatsächlich ist die Aussagekraft der Gentests unter Wissenschaftern und Ärzten höchst umstritten. Unternehmen wie DeCodeMe suchen nach _sogenannten Single-Nucleotide-Polymorphismen (SNPs). Das sind minimale Abweichungen einzelner Basenpaare in einem DNA-Strang, von denen es mehr als zehn Millionen im Erbgut gibt. In unzähligen Studien wurden Gene von Kranken mit Kontrollgruppen verglichen. Dabei ist nachgewiesen worden, dass einige Varianzen bei bestimmten Krankheitsbildern gehäuft vorkommen.
Über die Rolle und Bedeutung dieser SNPs herrscht in den meisten Fällen allerdings völlige Unklarheit. Der Zusammenhang zwischen Mutation und Erkrankung sei zudem oft viel zu gering, sagt Herzgenetikerin Erdmann. Ihr Beispiel: Eine Varianz auf dem Chromosom neun (9P21) weist die stärkste Assoziation mit Herzinfarkten auf. "Aber selbst die Bedeutung dieser Mutation ist nur minimal. Wir wissen noch nicht einmal, in welcher Weise sie das Risiko erhöht", sagt Erdmann. Sicher sei nur: Ernährung und Bewegung spielen bei der Gefahrenvermeidung eine entscheidendere Rolle. "Aber um das zu wissen, braucht man keinen Test."
Wenig gesicherte Erkenntnisse
Auch über die Rolle der Telomerlänge wissen Genetiker nach der Einschätzung Erdmanns viel zu wenig, um verlässliche Aussagen über Krankheitsrisiken treffen zu können. Die Länge der Telomere scheint eine große Bedeutung für die Regenerationsfähigkeit der menschlichen Zellen zu besitzen. Studien haben zudem gezeigt, dass bei bestimmten Erbkrankheiten die Telomere verkürzt sind. Allerdings gilt auch hier, dass es nur wenig gesicherte Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Krankheit und Telomerlänge gibt. Erdmann: "Das ist doch alles Kaffeesudleserei."
Zudem spielt unter Genetikern die Art und Weise, wie der Körper das vorhandene Erbgut nutzt eine immer größere Rolle. Diese Interpretation der DNA ist ständigen Veränderungen unterworfen, und ihr Einfluss auf manche Erkrankungen könnte von größerer Bedeutung sein als einzelne Varianzen (siehe Interview mit Nikolas Rose).
Dennoch bieten die Gentester Risikoanalysen zu potenziell tödlichen Erkrankungen an. Deshalb verlangen inzwischen zahlreiche US-Bundesstaaten wie Kalifornien, dass die Tests nur mehr von einem Arzt veranlasst und bestellt werden können. Andere wie New York verbieten ihren Bürgern das Genscreening komplett. Damit ist aber ein Reiz der Gentests - die unkomplizierte und direkte Abwicklung - weggefallen. Ein harter Schlag für eine Branche, die insbesondere in den USA um Kunden warb. In Österreich gibt es keine Verpflichtung, einen Arzt zu konsultieren. Wegen der schwachen Aussagekraft der Tests und der fehlenden Aufklärung von Verbrauchern rät die Bioethikkommission im Bundeskanzleramt aber davon ab, das Erbgut ohne ärztliche Beratung testen zu lassen.
Die Branche verschweigt solche Probleme nicht, argumentiert aber, dass die Zeit und zusätzliche Patientendaten dabei helfen würden, die Tests zu verbessern. Fachleute sind skeptisch. "Das Versprechen der genetischen Revolution zieht schon seit 30 Jahren Investitionen an. Die medizinischen Erfolge waren bisher noch nicht revolutionär. Ein Teil der kommerziellen Biotechnologieunternehmen lebt aber vom Handel mit Gesundheits-_versprechen. Diese Geschäftsmodelle wurden interessant, nachdem die Kosten für die Technologie immer weiter gesunken waren. Die Entwicklungskosten trugen aber großteils öffentlich finanzierte Forschungsprogramme. So entstand ein künstlicher Markt für unausgereifte Produkte", sagt der Politologe Georg Lauss von der Life Science Governance Research Platform Vienna.
Üppige Förderung für Genetiker
Bei genauerer Betrachtung erfreut sich die Biotechbranche in der Tat einer regen direkten wie indirekten staatlichen Förderung. Die Grundlagenforschung der Telomerentdeckerin und Telome-Health-Mitbegründerin Elizabeth Blackburn an der University of California, San Francisco, und in Berkeley wäre ohne staatliche Förderungen unmöglich gewesen.
Die Technologie der Genomsequenzierung wurde erst durch die öffentlichen Förderungen, die im Rahmen des Human Genome Projects und danach geflossen sind, halbwegs erschwinglich. Der Großteil der Genvarianten, die DeCode untersucht, sind auf Universitäten entdeckt worden. Die Förderung erlaubt den Unternehmen, die Gentests zu niedrigeren Preisen anzubieten. Inzwischen kostet das Screening bei 23andMe nur noch 299 Dollar, bei DeCodeMe 999. Die sinkenden Preise schaffen eine niedrige, aber konstante Nachfrage. "Besonders gefährlich ist das zunächst noch nicht, eher absurd", meint Lauss.
Alles in allem gibt es also selbst bei schlechten Resultaten keinen Grund, allzu nervös zu werden. Schlussendlich stimmt nur das Ergebnis, wonach mit einer 20-prozentigen Wahrscheinlichkeit bis zum 40. Lebensjahr die Glatze droht, wirklich nachdenklich. Die männlichen Vorfahren waren und sind tatsächlich allesamt Glatzköpfe. (András Szigetvari, STANDARD, 17.8.2012)