Nach Hirnblutungen, schwerem Schlaganfall oder Kopfverletzungen überziehen elektrische Entladungswellen das Gehirn und verursachen das weitere Absterben von Nervenzellen. Neurochirurgen des Universitätsklinikums Heidelberg haben nun in einer internationalen Studie gezeigt, dass das gängige Narkosemittel Ketamin das Auftreten dieser Wellen drastisch vermindert. Damit gibt es einen ersten Behandlungsansatz für das bisher unkontrollierbare Phänomen. Die Ergebnisse wurden jetzt im Fachjournal "Brain" veröffentlicht.

Stirbt im Gehirn nach Verletzungen, Blutungen oder einer anhaltenden Unterbrechung der Blutversorgung (ischämischer Schlaganfall) Nervengewebe ab, sind auch die angrenzenden Hirnareale gefährdet: Am Rand des abgestorbenen Gewebes entstehen Wellen elektrischer Entladungen, sogenannte "Spreading Depolarisations", die sich über die benachbarten Regionen ausbreiten. Darauf folgt Schweigen - die Gehirnaktivität in diesen Bereichen kommt kurz zum Erliegen, denn die Nervenzellen sind vorübergehend nicht mehr in der Lage, Signale weiterzugeben. Je häufiger solche Wellen auftreten, desto länger brauchen die Zellen, um sich wieder zu erholen. Schließlich sterben sie ab.

Schwerere neurologische Schäden

Eine amerikanische Studie aus dem Jahr 2011 zeigte, dass Patienten, bei denen diese Wellen auftreten, schwerere neurologische Schäden davontragen als Patienten, deren Nervenzellen diesem Stress nicht ausgesetzt sind. "Dabei kommt es vor allem auf die Frequenz an: Je schneller die Depolarisationswellen aufeinander folgen, desto schlechter die Prognose", erklärt Daniel Hertle, Assistenzarzt der Neurochirurgischen Universitätsklinik Heidelberg und Erstautor des nun veröffentlichten Artikels.

Ob ein Patient z.B. dauerhaft ins Koma fällt, lebenslang gelähmt bleibt oder die Fähigkeit zu Sprechen verliert, hängt also nicht nur von der Größe des ursprünglich betroffenen Hirnareals ab, sondern auch maßgeblich davon, welchen zusätzlichen Schaden die Entladungswellen verursachen.

Ketamin senkt Anzahl der Entladungswellen um 60 Prozent

"Wir gehen davon aus, dass sich schwere Folgeschäden wie lebenslange Behinderungen zum Teil verhindern ließen, wenn wir die Entladungswellen unterdrücken könnten", sagt Oliver Sakowitz, Geschäftsführender Oberarzt der Neurochirurgischen Universitätsklinik und Seniorautor des Artikels.

Bisher standen die Mediziner diesen Vorgängen im Gehirn hilflos gegenüber - die aktuelle Studie beschreibt nun erstmals einen möglichen Behandlungsansatz. In die Studie wurden 115 Patienten nach Schädel-Hirn-Trauma, Hirnblutungen oder ischämischem Schlaganfall eingeschlossen.

Bei allen Patienten musste im Zuge der Behandlung das Gehirn teilweise freigelegt werden, so dass die Messelektroden an der Hirnoberfläche rund um das geschädigte Gewebe angelegt werden konnten. Anschließend wurde die Operationsnaht verschlossen und die Hirnströme über 15 Tage gemessen. Die Patienten befanden sich aufgrund ihrer schweren Erkrankung anfänglich bzw. einige Zeit im künstlichen Koma. Als Narkosemittel kamen sechs verschiedene Medikamentengruppen zum Einsatz; jedes Zentrum verwendete seine üblichen Wirkstoffkombinationen.

60 Prozent weniger Entladungswellen

Die Auswertung der Messdaten ergab: Im Gehirn von Patienten, die das Narkosemittel S-Ketamin erhalten hatten, traten 60 Prozent weniger Entladungswellen auf als bei Patienten, die zum Zeitpunkt der Messung nicht narkotisiert waren. "Diese Wirkung kennen wir aus Tierversuchen. Nun haben wir sie erstmals bei Menschen nachgewiesen", so Hertle. Bei den übrigen Wirkstoffgruppen zeigte sich kein solcher Effekt.

Die weitere Auswertung der Patientendaten muss nun zeigen, ob die Eindämmung der Entladungswellen auf lange Sicht tatsächlich mit besseren Heilungschancen einhergehen. Darüber hinaus ist eine weitere Studie in Planung, in der Ketamin gezielt zur Vorbeugung der Entladungswellen eingesetzt werden soll. "Ketamin ist in der klinischen Routine fest etabliert. Wir hoffen, dass es, falls es sich bewährt, schnell in der Behandlung nach Hirnverletzungen eingesetzt werden kann", sagt der Neurochirurg. (red, derStandard.at, 21.8.2012)