Foto: Georg Desrues

Die "bilancione" genannten Fischerhütten an der Lagune werden immer öfter zu Restaurants umgebaut, in denen der morgendliche Fang abends verkocht wird.

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Der venezianische Fischer Ermes Bergo beim Verpacken von Venusmuscheln.

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Am Abend erreicht Ermes Bergo ein SMS der Fischer-Kooperative von Chioggia. "Sehen Sie", sagt Bergo", darin steht ganz genau, wie viele Vongole wir morgen fischen dürfen und in welcher Gegend." Am nächsten Morgen um vier Uhr früh bricht er mit seinem Fischkutter auf, um einunddreißig Säcke Venusmuscheln zu je zehn Kilo vor dem Lido di Venezia herauszuholen, wo dieser Tage gerade die Architekturbiennale steigt. Die Fahrt geht durch die Lagune von Venedig, vorbei an den Lichtern der Häuser und Straßenlaternen auf der langgestreckten Insel Pellestrina und an deren Nordspitze hinaus aufs offene Meer.

Bei Dämmerung stehen die Sonnenliegen auf dem Lido noch leer, draußen auf dem Meer herrscht dafür schon reges Treiben. Zahlreiche Kutter sind bereits eingetroffen und holen körbeweise Muscheln aus dem sandigen Boden der Adria. "Auf Venezianisch heißen sie pevarasse, es ist eine andere Art von Venusmuschel als die vongole veraci, die sie in der Lagune fischen", sagt Bergo. Von außen betrachtet ist es selbst für Spezialisten schwer, einen Unterschied zu erkennen. Erst ein Blick ins Innere gibt Aufschluss darüber, welcher Gattung sie angehören. "Die Lagunenmuscheln, wir nennen sie caparossoli, haben zwei zusammengewachsene Siphonen. So nennt man die kleine Röhrchen, die ihnen zum Atmen dienen. Die Siphonen der Muscheln aus dem Meer hingegen sind getrennt", sagt Bergo.

Venusmuscheln aus dem Pazifik

Dass die Lagunenmuscheln das Adjektiv veraci - also "echt" - im Namen tragen, wurmt den Meeresmuschelfischer etwas. "Sie sind um nichts echter als unsere - im Gegenteil: die vongole veraci, die man heute findet, stammen eigentlich von den Philippinen", sagt Bergo. Tatsächlich handelt es sich um eine Gattung Venusmuscheln aus dem Pazifik, die in den Achtzigerjahren zu Experimentierzwecken in der Lagune ausgesetzt wurden - und zwar aus wirtschaftlichen Gründen, weil sie einfach schneller wachsen als die einheimischen vongole veraci, die inzwischen fast gänzlich von ihnen verdrängt wurden. Bald nach ihrer Einführung vermehrten sich die pazifischen Muscheln in der Lagune so rapide, dass sie einen regelrechten Goldrausch entfachten. Die Leichtigkeit, mit der sie sich fischen lassen, sowie das Fehlen von Gesetzen und Verordnungen, brachte eine ganze Heerschar von mehr oder weniger befugten Fischern auf den Plan, die sowohl mit legalen als auch illegalen Methoden die kleinen Muscheln aus dem seichten Wasser holten.

"Mittlerweile ist das Ganze streng reguliert", sagt der Muschelzüchter Paolo Zennaro, ein Freund Bergos, "Methoden, die das empfindliche Gleichgewicht der Lagune bedrohen könnten, werden jetzt nicht mehr zugelassen. Und die illegalen caparozzolanti, wie die Muschelfischer genannt werden, sind heute verschwunden." Sich selbst sieht Zennaro als eine Mischung aus Züchter und Fischer. Denn gefüttert werden auch die Muscheln aus der Lagune nicht. Ein einträgliches Geschäft sei die Muschelfischerei heute da wie dort nicht mehr, sind sich Zennaro und Bergo einig, weswegen sie seit einiger Zeit auch Touristen bewirten.

"Ittiturismo" nennt sich die Idee, die darin besteht, das in Italien so erfolgreiche Modell des Agriturismo vom Land aufs Wasser zu verlegen. "Irgendetwas mussten wir uns einfallen lassen", sagt auch Alessandro Boscolo, stolzer Besitzer eines bilancione, einer hölzernen Fischerhütte an einem Damm vor Chioggia. Die Pacht- und Fischereigenehmigung hat er von seinem Großvater geerbt. Und wie dieser fischt Boscolo mit einem Netz, das an einer komplizierten Konstruktion im Meer hängt. Seit er vor zwei Jahren seinen bilancione in ein kleines Restaurant verwandelt hat, serviert er seinen gesamten Fang den Gästen. Und auch Zennaro bewirtet Besucher in seiner casone, wie die idyllisch gelegenen Fischerhütten inmitten der Lagune heißen. Ermes Bergo schließlich nimmt Touristen mit in seinem Fischkutter, führt sie durch die Lagune, zu den Vongole-Bänken im Meer und verköstigt sie an Bord.

Mit dem Meer verwachsen

Zum Abendessen sitzen die drei Fischer und Neo-Gastronomen auf der Terrasse von Boscolos bilancione beisammen. Es gibt klassisch venezianische Lagunenküche: Gemischte, frittierte Meeresfrüchte, gegrillten Branzino, Tintenfisch in seiner Tinte mit Polenta und beide Arten von Venusmuscheln. "Die Muscheln aus dem Meer haben mehr Geschmack als eure vongole veraci", sagt Bergo und dreht seine Gabel in einem Teller Spaghetti mit Vongole. "Mag schon sein", erwidert Zennaro, "aber die veraci sind größer und fleischiger, und das ist schließlich auch etwas wert." Zumindest für Italien trifft das zu. Während so gut wie alle Vongole, die dort verkauft werden, veraci sind und aus der Lagune stammen, gehen achtzig Prozent der im Meer gefangenen Muscheln nach Spanien.

"Die Spanier kennen sich eben besser aus mit Muscheln als die Italiener", sagt Bergo achselzuckend. "Aber niemand kennt sich besser mit Fisch und Muscheln aus, niemand ist mit dem Meer mehr verwachsen als wir Venezianer", sagt Boscolo, als über der Lagune die Sonne langsam untergeht und die Wellen der Adria von Osten her sanft gegen die Stelzen der Holzhütte schlagen. (Georg Desrues, Rondo, DER STANDARD, 24.8.2012)