"Für die drängenden Probleme des Landes - Arbeitsmarkt, Wohnungsbau, Finanzen - reicht Normalität nicht aus": Adrian Lobe.

Foto: privat

Bild nicht mehr verfügbar.

"Faire simple", es einfach machen, wie das Volk den Zug nehmen - natürlich unter medialer Anteilnahme und ein wenig angestrengt: Hollande und Trierweiler auf dem Weg nach Süden.

Foto: AP

Es ist eine Vokabel, über die man nicht groß nachdenkt und die doch so viel über unser Werteverständnis aussagt: normal. Der Zustand ist erreicht, wenn etwas den gesellschaftlichen Konventionen oder wissenschaftlichen Erfahrungen entspricht.

Frankreichs Staatschef François Hollande kultiviert das Bild des "normalen Präsidenten". Er geht ostentativ bei Grün über die Straße (was für Pariser Verhältnisse außergewöhnlich ist), reist mit der Bahn statt mit dem Flugzeug nach Brüssel (was bisweilen zu Verspätungen und Verärgerung bei den Verhandlungspartnern führt) und gab das obligatorische Interview zum Nationalfeiertag nicht wie gewöhnlich im Élysée-Palast, sondern im Hôtel de la Marine an der Place de la Concorde.

Der Präsident will sich volksnah geben und wird nicht müde zu betonen, ein einfacher Mann zu sein. "Faire simple", es einfach machen, sagte er bei einer Bahnfahrt lakonisch. Als Hollande in den Urlaub aufbrach, meinte er, er wolle "normale Ferien" verbringen. Freilich schwingt in der Aussage eine Spitze gegen seinen Amtsvorgänger Nicolas Sarkozy mit, der bei reichen Freunden Urlaub machte und später Bilder in der Illustrierten "Paris Match" retuschieren ließ. Das kam nicht gut an beim Publikum. Die Wähler waren der Bling-bling-Geschichten überdrüssig - und votierten für den bodenständigen Politiker aus der Corrèze. Doch je stärker Hollande Simplizität und Normalität wie eine Monstranz vor sich herträgt, umso virulenter wird die Frage nach der Substanz. Was steckt dahinter?

"Die Schwäche des Konzepts besteht darin, dass es überaus anspruchsvoll ist", sagt Jean-Luc Mano, ehemaliger Direktor des Senders France 2. " Jede Abweichung wird kritisch beäugt, sei es ein Restaurant, das als zu gehoben betrachtet wird, oder ein als zu arrogant empfundenes Verhalten." So ein "Normalismus" - und das ist das Paradoxon - erfordert eiserne Disziplin. Man muss sich so weit verbiegen, wie es die gemeine Ansicht gerne hätte. Das ist wenig glaubhaft - und anbiedernd.

Prinzipienreiterei

Dabei muss ein Staatspräsident gar nicht normal sein. In Frankreich ist der Staatspräsident gemessen an seinen Kompetenzen noch immer so etwas wie ein König. Das Volk billigt ihm das zu - unter der Bedingung, dass er in Paris, nicht in Versailles residiert.

Nicht wenige Konservative rümpften die Nase, als Cécile Duflot, Ministerin für sozialen Wohnungsbau, in der Metro zur Arbeit fuhr. Es glich einer Inszenierung, die zeigen sollte: "Ich bin eine von euch." Doch so sehr sich die Politiker in Frankreich mühen, die Distanz zum Volk zu verringern - der Klassenunterschied zwischen Elite und Masse verfestigt sich umso stärker. Die Verantwortlichen der Regierung rekrutieren sich allesamt aus dem hochselektiven System der Grandes Écoles. Medienwirksame Auftritte, in denen sich Politiker als einfache Bürger gerieren, ändern nichts am elitären Gestus ihres Handels. Und schon gar nicht an der sozialen Durchlässigkeit der Gesellschaft.

Die Hollande'sche Normalität erschöpft sich in einer puristischen Haltung, die lebensfremd und innovationsarm erscheint. Normalismus ist substanzlos - und mündet schnell in Prinzipienreiterei. Eine Gesellschaft braucht Anormalität, um sich weiterzuentwickeln. Menschen, die wider den Stachel löcken. Querdenker, die Normen, ja vielleicht auch das System infrage stellen. Nur so lassen sich verkrustete Strukturen überwinden. Der Seelenklempner Hollande mag mit seiner Zurückhaltung die Risse der Sarkozy-Ära gekittet haben. Für die drängenden Probleme des Landes - Arbeitsmarkt, Wohnungsbau, Finanzen - reicht Normalität aber lange nicht aus. (Adrian Lobe, DER STANDARD, 23.8.2012)