Der übelste Aspekt bei dem Schandurteil gegen die Frauen von Pussy Riot ist die Rolle, die die russisch-orthodoxe Kirche gespielt hat. Ihr Patriarch Kyrill I. hat im Verein mit Präsident Wladimir Putin Kritik an der Staatsmacht praktisch mit Blasphemie gleichgestellt. Wer gegen Putin ist, ist gegen Gott. Wirklich?

Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die Pussy-Aktion in der Moskauer Erlöserkirche steht in einer jahrhundertealten christlichen Tradition. Seit biblischen Zeiten haben empörte und verzweifelte Christen die Muttergottes angerufen, um Hilfe gegen eine ungerechte Gewaltherrschaft zu erbitten. Da wähnten sie sich an der richtigen Adresse. Gott "stürzt die Mächtigen vom Throne und erhöht die Niedrigen", singt Maria im Magnificat, dem berühmten Lobgesang im Lukas-Evangelium. "Mit seinem machtvollen Arm vertreibt er die Stolzen." Da passt das inkriminierte Kirchenlied von Pussy Riot nicht schlecht dazu: "Mutter Gottes, du Jungfrau, vertreibe Putin. Die Jungfrau Maria ist bei den Protesten mit uns."

Blasphemie ist in Russland keine strafbare Handlung. Die drei Moskauerinnen wurden denn auch wegen "Rowdytums aus Motiven des religiösen Hasses" angeklagt und verurteilt. Im Profil wurde aus der Anklageschrift zitiert: "Sie (die Angeklagten) waren bemüht, die kirchlichen Traditionen und Grundprinzipien, welche im Lauf von Jahrhunderten geschützt wurden, demonstrativ und exemplarisch wertlos zu machen. Mit ihrem Auftritt haben sie die inneren Überzeugungen der Bürger abgewertet, die sich geistig mit Gott verbinden. Klar und eindeutig haben sie ihren religiösen Hass und ihre feindselige Einstellung gegenüber dem Christentum zum Ausdruck gebracht."

Mit den erwähnten "Traditionen" ist offensichtlich das unheilige Bündnis zwischen Thron und Altar gemeint, das in Russland, aber nicht nur dort, Gewaltherrschern so etwas wie einen kirchlichen Segen gegeben hat. Bei den Frauen klingt das so: "Schwarzer Priesterrock, goldene Schulterklappen. Der Patriarch glaubt an Putin. Besser sollte er, die Schlampe, an Gott glauben."

Putin ist kein gläubiger Christ, sondern ein gelernter sowjetischer Geheimdienstler, aber er sucht nach dem Vorbild der Zaren die Unterstützung der nach der Wende wieder populären Orthodoxie und findet sie. Mit dem Patriarchen verbindet ihn das Misstrauen gegen in Russland einsickernde westliche Ideen und Werte, gegen Aufklärung und Meinungsfreiheit, aber auch gegen Menschenrechte und Demokratie. In den Worten eines gewissen Alexander Schargunow, Erzpriester der orthodoxen Kirche: "Extremismus und Satanismus sind unser gemeinsamer Feind."

Der Prozess und das Urteil gegen Nadeschda Tolokonnikowa, Maria Aljochina und Jekaterina Samuzewitsch sind von der westlichen Presse und von vielen demokratischen Politikern eindeutig verurteilt worden. Es wäre aber angebracht, dass sich auch kirchliche Vertreter in klaren Worten dazu äußern. Es ist unerträglich, dass das Urteil gegen die Frauen mit der Verteidigung des Christentums gerechtfertigt wird. Ökumene hin oder her, katholische und evangelische Bischöfe, bitte sprechen. (Barbara Coudenhove-Kalergi, DER STANDARD, 23.8.2012)