DER STANDARD-Schwerpunktausgabe "Die Zukunft der Mobilität"

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Wissenschafter Reinprecht: Mobilität ist eine Frage gesellschaft licher Gerechtigkeit.

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STANDARD: Wird unsere Mobilität immer von Öl abhängig bleiben?

Reinprecht: Das nehme ich nicht an. Im Grunde hat die Bahn das modernste und auch ökologisch überzeugendste Fortbewegungskonzept. Auch das Elektroauto halte ich für ein Zukunftskonzept, das sich durchsetzen wird - vor allem in den urbanen Ballungsräume, wo man eher kurze Strecken fährt. Ich spreche hier natürlich aus europäischer Perspektive.

STANDARD: Dann schwimmen wir über den Atlantik. Die USA waren im 20. Jahrhundert das Mekka der Mobilität, das Auto hatte ikonografischen Charakter. Sind die USA heute mit dem Konzept der "Freiheit auf vier Rädern" die Loser?

Reinprecht: Schwierige Frage. Ich glaube, in den USA zeigt sich weniger ein Scheitern des Mobilitätskonzepts als eines des Urbanisierungskonzepts. Die Städte der USA sind, von New York einmal abgesehen, sehr weitläufige Städte ohne wirkliches Zentrum, das Einfamilienhaus dominiert, die Distanzen sind endlos, die In frastrukturen de facto ohne Auto unerreichbar. Dieses Konzept sehe ich am Ende angekommen. Aber das Ideal des "free riders", das mit dem Automobil verknüpft ist, gibt es nach wie vor - weil in den USA räumliche Mobilität mit sozialer Mobilität, also dem sozialen Aufstieg, verknüpft ist.

STANDARD: Auch in Europa, auf dem Land, war das Auto Ausdruck von Emanzipation und Unabhängigkeit. Frauen waren nicht mehr davon abhängig, dass ihre Ehemänner sie fahren. Gegenbeispiel ist Saudi-Arabien, wo Frauen noch immer kein Auto lenken dürfen.

Reinprecht: Diese Ambivalenz gibt es. Das Ideal der Automobilität hat in den Nachkriegsjahrzehnten alle sozialen Schichten erfasst. Es steht für Wohlstand, sozialen Aufstieg, Vollbeschäftigung. Der Fetisch Auto erreicht seinen Höhepunkt nicht zufällig zeitgleich mit dem Höhepunkt der Arbeitsmigration in Europa, in den 1960er- und 1970er-Jahren. Da hat der aus der Türkei stammende Mann bei Opel gearbeitet, und in den Ferien ist man dann mit dem eigenen Opel und der ganzen Familie in die Türkei auf Urlaub gefahren. Die individuelle Mobilität, die mit dem Privatauto verknüpft war, erodiert aber zunehmend. Das Auto wird immer mehr zur Geißel, belastet Umwelt und privaten Geldbeutel.

STANDARD: In Asien etwa ist die Nachfrage nach Autos steigend.

Reinprecht: Dort erleben wir jetzt, quasi im Zeitraffer, was uns seit Jahrzehnten beschäftigt. Dass nämlich der Fortschritt, den das Auto gebracht hat, die Verwirklichung eines modernen Lebensbildes, andererseits ein Besitz- und Wertedenken einbetoniert, das für die Gesamtgesellschaft problematisch ist: Zersiedelung der Landschaft, Verödung von Stadtzen tren, die Umweltproblematik.

STANDARD: Wie wird Mobilität künftig aussehen? Wer wird teilnehmen?

Reinprecht: Wir leben in einer Umbruchsphase. Die europäische Moderne erhob Mobilität und Mobilisierung der Menschen, der Güter, des Kapitals zu einer zentralen Frage. Diese Erfahrung ist aber von Beginn an begleitet von einem System an Kon trollen und Regelungen. Mobilität ist gewollt und für den Industriekapitalismus notwendig, aber gleichzeitig eingeklammert in die Bedürfnisse der Nationalstaaten, diese zu regulieren und zu kon trollieren. Angesichts globalisierter Märkte können wir nicht davon ausgehen, dass die Rahmenbedingungen von Verkehr und Mobilität gleich bleiben. Wir sollten dahin kommen, dass Mobilität als kollektive Aufgabe, als Angelegenheit von höchstem öffentlichem Interesse angesehen wird.

STANDARD: In der EU ist Freizügigkeit in den Verträgen festgeschrieben. Ist Ihr Begehr damit erfüllt?

Reinprecht: Im Sinne einer Ökonomisierung ist Freizügigkeit festgeschrieben. Aber wir müssen die soziale Dimension einbeziehen und das nach wie vor vorherrschende Prinzip individualisierter Mobilität hinterfragen. Wir brauchen ein stark intensiviertes öffentliches Verkehrsnetz, das erschwinglich sein muss und den unterschiedlichen Mobilitätsbedürfnissen gerecht werden.

STANDARD: Für eine Studie des In stituts für Transportforschung in Michigan wurden 15 Länder untersucht, unter anderem die Schweiz, Japan, Deutschland und Spanien. In all diesen Ländern machen immer weniger Jugendliche den Führerschein. Die Conclusio: Das hänge mit höherer Internetnutzung zusammen, diese minimiere das Bedürfnis nach "wirklichem Kontakt". Ist das nicht ein wenig banal?

Reinprecht: Das überrascht mich. Unsere Forschungen zeigen, dass Internetnutzung die Realkontakte nicht kompensiert, sondern eher ergänzt - gerade unter Jugendlichen. Ich fürchte, dass es sich hier um ein Artefakt, einen Schein-Zusammenhang, handelt.

STANDARD: Dennoch - immer weniger Jugendliche machen den Führerschein. Wie ist das erklärbar?

Reinprecht: Zum einen aus den Kosten. Ein Führerschein ist sehr teuer, und gerade die soziale Situation für Jugendliche ist nicht unproblematisch. Aber man muss auch differenzieren zwischen Lebenszusammenhängen und Urbanisierung. Jugendliche im urbanen Raum haben gute Gründe, keinen Führerschein zu machen, vorausgesetzt, es gibt ausreichend Verkehrsinfrastruktur und alternative Fortbewegungsmittel. Das Auto steht vielfach ungenutzt herum, die Parkplatzsituation wird zunehmend prekärer, und es kostet viel. Jugendliche sind da ziemlich realistisch in ihrer Kosten-Nutzen-Rechnung. Auf dem Land ist die Situation natürlich anders.

STANDARD: Ist Mobilität eine Frage gesellschaftlicher Gerechtigkeit?

Reinprecht: Und wie. Wenn Sie in innerstädtischen Bereichen in Europa leben, haben Sie ja alle Möglichkeiten der Mobilität, und die Verkehrsmittel sind für einen Großteil der Bevölkerung leistbar. Wenn Sie im Streusiedlungsgebiet an den Rändern der Städte wohnen, ist die Infrastruktur schon weniger ausgeprägt. Dann sind Sie angewiesen auf private Verkehrsmittel, und sehr häufig leben in den sub- und periurbanen Räumen auch Menschen, die über niedrigere Einkommen verfügen.

STANDARD: Das Gegenbeispiel ist der Süden Wiens. Jene, die es sich leisten können, ziehen an den Stadtrand und beschweren sich dann, dass die U-Bahn nicht bis vor die Haustür fährt.

Reinprecht: Sie haben recht, das Phänomen ist vielschichtig. In den infrastrukturell nicht so gut erschlossenen Stadtrandgebieten finden Sie zum einen Groß-Wohnhausanlagen, wo die Menschen nicht nur weite Wege auf sich nehmen müssen, um zu ihrem Arbeitsplatz zu kommen, sondern für diese Mobilität auch mehr zahlen müssen - selbst wenn sie öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Dies ist besonders ausgeprägt in Millionenstädten wie London oder Paris, wo die Masse der in der Stadt beschäftigten Bevölkerung in der Peripherie lebt. Auf der anderen Seite gibt es nach wie vor das Phänomen der Sub-Urbanisierung, wo Mittelschichtsfamilien an den Stadtrand ziehen und Effekte produzieren, die wir alle beklagen - starke Zersiedelung, hohen individuellen Motorisierungsgrad, Einkaufszentren, die ohne Auto nicht erreichbar sind. Auch Jugendliche sind dort mehr in der Malaise. In der Zukunft, glaube ich, wird aber die Illusion, dass man nur im eigenen Haus mit Garten mit mindestens zwei Autos in der Garage glücklich wird, stark an Bedeutung verlieren.

STANDARD: Ist Mobilität in Zukunft etwas für Junge, Fitte? Werden alte Menschen auf der Strecke bleiben?

Reinprecht: Ich meine nicht, dass Mobilität eine Frage des Alters ist. Man ist im höheren Alter vielleicht körperlich in der Beweglichkeit eingeschränkt. Mobilität muss für alle zugänglich sein. Dies ist ein wichtiger Gerechtigkeitsaspekt, auch in der Hinsicht halte ich die Organisation von Mobilität für eine Frage des Gemeinwohls.

STANDARD: Wie werden Lebensläufe in Zukunft aussehen? Bricht ein Zeitalter umfassender Migration und Mobilität an? Oder halten Sie das für ein Elitenphänomen?

Reinprecht: Das ist es ja heute schon nicht. Es wandern die Pole: die Eliten, weil sie können, und die ärmsten Schichten, weil sie müssen. Es deutet nichts darauf hin, dass sich das in absehbarer Zeit ändert. Obwohl auch soziale Mittelschichten zunehmend unter Druck geraten, mobil zu sein. Mobilität wird weiter zunehmen, auch die Mobilitätsräume werden sich ausweiten.

STANDARD: Mobilitätsforscher sprechen von der Mobilitätscloud, wo man sich nach Belieben ein- und ausklinken kann. Werden wir via Handy-App all unsere diesbezüglichen Bedürfnisse erfüllen?

Reinprecht: Für jene, die ein solches Handy haben, wird das Realität. Das Smartphone wird so wichtig werden wie der Pass. Die Frage ist nur: Wer hat in Zukunft dazu Zugang? Da sind wir wieder bei Ressourcenverteilung und der Frage der Gerechtigkeit. (Petra Stuiber/DER STANDARD, Printausgabe, 25.8./26.8.2012)