Anders Behring Breivik nahm das Urteil des Osloer Strafgerichtes mit sichtlicher Genugtuung auf. Auch ohne persönliche Betroffenheit konnte einem bei dem schiefen Genugtuungs-Grinser des nun erstinstanzlich verurteilten Massenmörders die Galle hochkommen. Das Gericht hat ein Urteil gefällt, das den Angeklagten offensichtlich zufriedenstellt: voll schuldfähig, daher Höchststrafe. Damit erfüllt es Breiviks Bedürfnis, sich selbst als "politischer Gefangener" fühlen zu dürfen.

Gleichzeitig genügt dieses Urteil aber auch dem Sühnebedürfnis der Opfer und Hinterbliebenen - und der Mehrheit der norwegischen Bevölkerung, wenn man Umfragen glauben darf. Demnach wünschten sich die Norweger nichts sehnlicher, als dass Breivik voll schuldfähig für die 77 Morde büßen muss, die er begangen hat. Insofern kann man das Osloer Urteil auch als politisches Urteil begreifen - wenn auch eines, das dem Rechtsempfinden der meisten Menschen wohl ziemlich sympathisch ist.

Denn da bleibt doch die große Fragwürdigkeit der psychiatrischen Gutachten: Dem ersten, offensichtlich missliebigen, das Breivik paranoide Schizophrenie attestierte, folgte ein zweites, das Breivik als vollkommen gesund einstufte - was selbst manche Angehörige im Gerichtssaal bezweifelten. Der Mann zeigte sich in seinen Reaktionen völlig abgespalten von seiner Umwelt - dies ist die Definition von Schizophrenie. Dazu kommt die Problematik des archaisch Bösen: Wo kämen wir hin, wenn dieses aus der Welt verschwände, wenn alle Menschen, die monströs Böses getan haben, als krank gälten? Wäre dann, wie ein deutscher Kriminologe in der Zeit philosophierte, Hitler ebenso schuldunfähig gewesen, und mit ihm alle Nazis und Mitläufer?

Andererseits wertet das Osloer Urteil Breivik auch auf: Es macht ihn zum politisch bewegten Fanatiker. Dies mag auch die Staatsanwaltschaft bewegt haben, im "begründeten Zweifel an der psychischen Gesundheit des Angeklagten" auf schuldunfähig zu plädieren.

Dass das Gericht letztlich anders entschieden hat, kann man auch positiv sehen: Die Justiz dient im besten Falle dem Volk. Die Tat eines Wahnsinnigen ist nur traurig. Nichts ist für Hinterbliebene ärger als die unbegründete Grauenhaftigkeit eines Verbrechens, das ein Kranker begangen hat. Die Tat eines politischen Fanatikers macht, so grässlich sie sein mag, innerhalb unserer Werte-Koordinaten irgendwie mehr Sinn.

Breiviks Verbrechen drängten den Rechtsstaat Norwegen an seine Grenzen - das wäre wohl jedem anderen Rechtsstaat auch passiert. Doch insgesamt war der Umgang norwegischer Politiker, Behörden und Öffentlichkeit mit dem Fall hoch anständig. Vom Premier abwärts erlag niemand der populistischen Versuchung, nach einer weniger offenen Gesellschaft zu schreien. Der Prozess gegen Breivik wurde weitgehend mustergültig geführt. Dafür verdient ein gesamtes Land Respekt - unabhängig vom Expertenstreit rund um das Urteil.

Im Endeffekt ist es egal, ob Breivik schuldfähig ist oder nicht. Er wird wohl nicht mehr aus der Haft entlassen. Und der Rechtsstaat Norwegen mit seinem humanen Strafvollzug muss sich einer neuen Herausforderung stellen: Es gilt zu verhindern, dass Breivik seine islamophoben und inhumanen Botschaften weiter verbreitet und für diesbezüglich Anfällige tatsächlich zum Märtyrer wird. (DER STANDARD, 25.8.2012)