China Miéville: "Stadt der Fremden"
Broschiert, 430 Seiten, € 10,30, Bastei Lübbe 2012 (Original: "Embassytown", 2011)
Preisfrage an geekologisch Versierte: Was haben China Miéville, der Meister der barocken Weirdness, und "Star Trek TNG" gemeinsam? Die Antwort liegt in Folge 2 der fünften Staffel ("Darmok"), in der die "Enterprise"-Crew mit einer Spezies zu kommunizieren versucht, die nur in unverständlichen Metaphern spricht. Bei den Ariekei von Miévilles "Stadt der Fremden" ("Embassytown") geht dies sogar noch weiter: Denken und Sprechen sind für sie eins. Die Ariekei sind also nicht nur unfähig die Unwahrheit zu sagen - unbeholfene Annäherungen an Lügen versuchen sie sich in sportähnlichen Wettbewerben abzuringen -, sie können auch nichts formulieren, für das es keine reale Entsprechung gibt. Wie Picard einst in "Darmok" zum Gegenstand einer neuen Metapher werden musste, um den Dialog zu ermöglichen, so wird die Hauptfigur in Miévilles Roman zum Simile: Als Mädchen wurde Avice Benner Cho einst einer absurden und etwas unangenehmen Situation ausgesetzt. Seitdem ist sie Teil des ariekenischen Sprachgebrauchs und ermöglicht durch ihre bloße Existenz, Gedankengänge auszuformulieren, welche sich auf Dinge beziehen, die "wie das Mädchen, das ..." sind.
Zumeist werden Sprachbarrieren in der SF ja ganz wie die Lichtgeschwindigkeitsgrenze eher als Lästigkeit denn als thematische Chance betrachtet. Eine Hürde, über die man sich halt irgendwie drüberschummelt ... sei es mit Universaltranslatoren, Übersetzermikroben oder Babelfischen. Wenn nicht ohnehin alle eine galaktische Einheitssprache sprechen oder gleich telepathisch kommunizieren. Wenn man nach AutorInnen sucht, die sich ernsthafter mit dem Themenkomplex Sprache und Denken auseinandergesetzt haben, landet man gleich bei literarischen Schwergewichten der Phantastik wie Samuel Delany oder Ted Chiang. Es sollte nicht überraschen, dass jetzt auch China Miéville, einer der interessantesten Genre-Autoren der letzten Jahre, da mitmischen will - schon in seinem zwei Jahre zuvor erschienenen Roman "Die Stadt & die Stadt" spielte die Semiotik eine entscheidende Rolle. Es kann übrigens nicht schaden, neben "Stadt der Fremden" ein sprachwissenschaftliches Einführungsbuch liegen zu haben (oder zumindest am Computer ein Wikipedia-Fenster zu öffnen), denn Miéville knallt einem alles, was er bei Paul Ricœur & Co gelesen hat, mit gewohnter Selbstverständlichkeit um die Ohren, dass es nur so raucht. Und wann hat man an einem Kapitelende schon jemals einen Cliffhanger à la "Ich will eine Metapher sein" gelesen?
Zurück zum Planeten Arieka und seinen riesenhaften Bewohnern, für die Miéville ein faszinierend fremdartiges Ambiente aus lebendigen (und zumeist verblüffend mobilen) Häusern, Farmen und Fabriken entworfen hat. Mitten in der exotischen Stadt der Gastgeber, geschützt von einer künstlichen Atmosphärenglocke, liegt die Botschaftsstadt der Menschen bzw. Terre, wie sie hier heißen. Sie gehören dem Staat Bremen an, der Gebiete auf verschiedenen Planeten umfasst - nicht die De-facto-Distanzen sind hier von Bedeutung, sondern wie nahe Welten im Immer beieinander liegen, jener Superstruktur, in die unser Universum - das Manchmal - eingebettet ist. Miéville vergleicht das Immer mit der langue als grundlegendem System, aus dem das Manchmal wie die parole entspringt ... also an der Linguistik hat er wirklich einen Narren gefressen. Hauptsächliche Daseinsberechtigung der am äußersten Rand des bekannten Immer gelegenen Botschaftsstadt ist natürlich der Kontakt mit den Ariekei. Und weil die zu allem Überfluss auch noch aus ihren jeweils zwei Mündern gleichzeitig sprechen, waren Anpassungsleistungen gefragt. Daher ist jeder Botschafter der Menschen trotz Singular-Bezeichnung kein Einzelwesen, sondern ein eigens gezüchtetes Paar von Klonen, die ein Leben lang auf Einklang getrimmt werden. Hinter jeder Äußerung haben zwei Münder und ein Geist zu stecken - alles andere würde von den Gastgebern nicht als Sprache erkannt.
Ich-Erzählerin Avice ist in der Botschaftsstadt geboren. Zwar wird sie nach ihrer Simile-"Karriere" nicht selbst zur Botschafterhälfte, lernt dafür aber die galaktische Außenwelt kennen, da sie als Immer-Eintaucherin zu der Minderheit von Menschen gehört, die Sternenflüge bei vollem Bewusstsein überstehen können, ohne Schaden zu nehmen. Nach einigen Jahren draußen in der Galaxis kehrt sie nach Arieka zurück, kurz bevor sich alles ändern wird. Es beginnt damit, dass Bremen einen Botschafter von eigenen Gnaden auf den Planeten schickt - kein Klon-Paar, sondern zwei Individuen, die noch dazu äußerst unterschiedlich wirken. Zum größten Erstaunen der alteingesessenen BotschafterInnen meistern die beiden dennoch die Gastgebersprache ... zu ihrem noch größeren Entsetzen allerdings nicht ganz. Sie erzeugen eine winzige Dissonanz, und die übt auf den Verstand der Ariekei eine verheerende, suchtauslösende Wirkung aus. Wie eine Epidemie breitet sich die Sucht unter den Gastgebern und ihrem lebenden Environment aus, es folgen Chaos und Zusammenbruch. Wie Laurie Anderson einst sang: "Language is a virus, hooo! / From outer space" (Gut, das Originalzitat stammt von William S. Burroughs, aber das "Hooo" hat Anderson beigesteuert). Nebenbei ist das Ganze ein schöne Umkehrung des alten SF-Topos vom dramatischen Einschnitt, der sich beim Kontakt mit einer fremden Kultur ergibt. Hier sind eben wir die Aliens.
Wie so oft beschreibt Miéville soziale Gärungsprozesse, die apokalyptischen Veränderungen vorausgehen ... es ist wieder einmal Zeit für das Ende der Welt. Obwohl der Handlungsablauf per se ein vertrauter Phantastik-Plot ist, bleibt das Ganze letztlich doch ein wenig abstrakt. Liegt zum einen natürlich am Sprachthema, zum anderen aber auch daran, dass die übrigen Romanfiguren recht austauschbar neben Avice auf- und wieder abtauchen. Was ganz einfach darauf zurückzuführen sein kann, dass wir alles aus ihrer Warte wahrnehmen, und Avice ist eben kein Mensch, der gerne Bindungen eingeht. Doch der Faktor Human Drama entfällt natürlich, wenn die Menge der plastisch geschilderten Figuren < 2 ist.
Den menschlichen Aspekt hat China Miéville in seinen durchaus ähnlichen Bas-Lag-Romanen schon besser hinbekommen. Ungebremst ist hingegen sein Sprachdonnerwetter: Es regnet Neologismen, und zumeist sind sie von surrealerer Anmutung als in der Science Fiction üblich ... ganz wie viele Situationen im Verlauf des Romans selbst. Man brachte das Ding rasch zur Strecke. Sie hämmerten es mit Gelegentlich-Gewehren nieder, die gewaltsam das Manchmal durchsetzen: dieses Zeug, unser Alltägliches, gegen das Stets des Immer, heißt es, als sich ein "blinder Passagier", eine Quasi-Wesenheit aus dem Immer, auf Arieka manifestiert. Schon in früheren Romanen - zuletzt in "Der Krake" - kam es vor, dass abstrakte Konzepte in unsere feststoffliche Welt eindrangen und deren Substanz an sich rissen, um Gestalt anzunehmen. Das ist die typische Handschrift des Autors, und letztlich scheint es so, dass Miévilles Hang dazu, mit Lust und Verve das Unbeschreibbare zu beschreiben, fast zwangsläufig zu einer Handlungsprämisse wie der von "Stadt der Fremden" führen musste.
"Stadt der Fremden" ist insgesamt hochinteressant. Was noch nicht unbedingt dasselbe bedeuten muss wie: ein Vergnügen. Obwohl Miéville mit seinem Roman wieder einmal diverse Preise abgeräumt hat und die Kritiken weitgehend begeistert ausfielen, blieb das Echo aus der Fangemeinde des Autors gemischt. Gelesen sollte man den Roman auf jeden Fall haben - alleine schon, weil hier endlich mal wieder wirklich fremdartige Aliens vorkommen. Zur allgemeinen Erleichterung serviert Miéville - kein Jahr ohne neues Buch - danach aber wieder leichtere Kost: "Railsea", heuer im Original erschienen und hoffentlich spätestens 2013 auch auf Deutsch erhältlich, ist zur Abwechslung mal ein Jugend-Abenteuerroman. Natürlich wieder vor bizarrem Hintergrund.