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Anhänger der inhaftierten Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko fordern vor dem Gerichtsgebäude ihre Freilassung.

Foto: Reuters/Stepanov

Der Anwalt der inhaftierten Julia Timoschenko, Sergej Wlasenko, sagt im Gespräch mit Nina Jeglinski, dass der Rachefeldzug der ukrainischen Führung noch nicht beendet ist.

Standard: In Straßburg hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit der Beurteilung der Verhaftung und den Haftbedingungen von Julia Timoschenko begonnen. Wie sind die Reaktionen in der Ukraine?

Wlasenko: Die politische Führung ist sehr nervös, vor allem Präsident Viktor Janukowitsch hat sich mit den Prozessen gegen Timoschenko in Europa vollkommen isoliert. In der Ukraine hat mittlerweile jeder verstanden, dass es bei den Prozessen nicht um Recht und Gesetz geht, sondern um den Rachefeldzug des Präsidenten gegen seine Gegnerin Nummer eins. Janukowitsch wird nicht einlenken, er ist ein zu allem entschlossener Hardliner.

Standard: Mit welchem Urteil aus Straßburg rechnen Sie, und welchen Einfluss wird es auf die politische Situation haben?

Wlasenko: Ich gehe davon aus, dass der EGMR Ende September das Urteil verkündet, dann haben wir es schwarz auf weiß, dass Timoschenko illegal im Gefängnis sitzt. Die ukrainische Regierung wird damit international weiter unter Druck und in eine noch stärkere Isolation geraten.

Standard: Vergangene Woche, am Unabhängigkeitstag der Ukraine, war Timoschenko auf einem Audiotape zu hören. Wie gefährlich ist es, Sachen aus dem Gefängnis zu schmuggeln?

Wlasenko: Ich weiß nicht, wie die Aufnahme aus dem Gefängnis gelangt ist ... Einzig und allein Präsident Janukowitsch bestimmt darüber, wie mit Julia Timoschenko weiter verfahren wird. Er agiert wie einer dieser afrikanischen Diktatoren. Das Leben meiner Mandantin ist in Gefahr, vieles deutet darauf hin, dass er sie umbringen will!

Standard: Julia Timoschenko ist im vergangenen Oktober zu einer siebenjährigen Haftstrafe wegen Amtsmissbrauch verurteilt worden, seit April steht sie wegen Steuerhinterziehung vor Gericht, die Staatsanwaltschaft ermittelt in zehn weiteren Fällen, sogar wegen Mordes. Die Fülle der Anklagen überrascht - wieso reagiert die Justiz derart scharf?

Wlasenko: Hier nimmt einer persönlich Rache - das hat mit Recht oder Justiz nichts zu tun. In der Ukraine gibt es keine unabhängigen Gerichte oder Richter, die frei entscheiden. Nach der Machtübernahme von Präsident Janukowitsch hat es in unserem Land eine komplette Neubesetzung aller wichtigen Stellen im Justizapparat gegeben. Das ist wie in einer Bananenrepublik.

Standard: Rechnen Sie damit, dass es zu einem Mordprozess gegen Timoschenko kommt?

Wlasenko: Wenn es angeordnet wird, läuft so ein Prozess in wenigen Stunden an.

Standard: Wird die Parlamentswahl am 28. Oktober eine Veränderung bringen?

Wlasenko: Wir leben in einer Diktatur. Alles deutet darauf hin, dass der Urnengang weder frei noch fair sein wird. Internationale Beobachter haben die Wahlvorbereitungen bereits kritisiert. Die aktuellen Umfragen alarmieren die Regierung. Wenn ein autoritärer Apparat unter Druck gesetzt wird, reagiert er oft erbarmungslos, das kennen wir aus anderen Teilen der Welt und aus unserer unmittelbaren Nachbarschaft leider nur zu gut.

Standard: Gibt es einen Weg zurück?

Wlasenko: Aus eigener Kraft werden die Ukrainer den Turnaround nicht schaffen, deshalb wünsche ich mir von Europa den Einsatz wirksamer Hebel, wie das Einfrieren von Auslandskonten und die Überprüfung der Herkunft ukrainischen Vermögens in der EU. Lässt man uns noch länger alleine, stehen wir bald auf der gleichen Stufe wie Weißrussland. (Nina Jeglinski, DER STANDARD Printausgabe, 29.8.2012)