Wenn von Deflation die Rede ist, wird oft das traurige Kapitel der "Great Depression" 1929 im Geschichtsbuch aufgeschlagen. Um über ein Viertel brachen damals Welthandel und Industrieproduktion ein. Anfänglich setzte die Politik auf die vielzitierten Selbstheilungskräfte des Marktes. Nulldefizit und restriktive Geldpolitik standen auf dem Plan. Die Folgen sind Geschichte: Chaos, Elend, Arbeitslosigkeit und Jahre deflationärer Depression.
In der aktuellen Krise drucken die Notenbanken um die Wette. Inflation in Verzug? "Keineswegs", sagt Harvard-Ökonom Ben Friedman im Gespräch mit dem Standard. "Zentralbanken leisten exzellente Arbeit." Inflationsängste bestünden zu Unrecht. Zur Beruhigung bestehe dennoch kein Grund, warnen Ökonomen wie Nobelpreisträger Paul Krugman. Deflation sei die eigentliche Gefahr!
Doch der Reihe nach. Wo liegt die Gefahr der Deflation, und was hat das gelddruckende Europa damit zu tun? In einer vielbeachteten Rede warnte der nunmehrige US-Notenbankchef Ben Bernanke 2002 vor den Gefahren der Deflation. Darunter zu verstehen ist ein allgemeiner Preisrückgang, welcher, so Bernanke, fast immer als Nebeneffekt eines schweren Wirtschaftseinbruchs auftritt. Neben den zur Genüge bekannten Problemen bringen deflationäre Rezessionen negative Besonderheiten mit sich, derer drei auch Krugman regelmäßig rezitiert. Erstens hemmt die Erwartung sinkender Preise die Investitionstätigkeit von Unternehmen. Zweitens bedroht das Problem der sogenannten "debt deflation" (d. h. kaufkraftmäßig teurer werdende Schulden) die Solvenz von Schuldnern. Und drittens sind die Möglichkeiten der Geldpolitik vergleichsweise beschränkt, was sich im Schlagwort der "Liquiditätsfalle" widerspiegelt. Alle drei Zutaten zusammen ergeben jenen Teufelskreis, aus dem Japan nach 1990 fast zwei Jahrzehnte nicht herauskam.
Europäisches Argentinien
Eine andere Malaise, die argentinische, nimmt Krugman als Drohszenario für Europa. 2002 musste Argentinien, nach anhaltender und zuletzt drei Jahre deflationärer Wirtschaftskrise, Bankrott anmelden und den fixierten Wechselkurs des Pesos gegenüber dem US-Dollar freigeben. Auch rigide Austeritätspolitik und Hilfskredite halfen dagegen nichts.
Die nicht wegzuleugnende Ähnlichkeit mit dem europäischen Dilemma (Austeritätspolitik, Rezession, Hilfskredite und der fixe Währungsverbund) erschreckt. "Der Verdacht, dass europäischen Problemstaaten Ähnliches widerfahren könnte, ist schwer zu vermeiden", warnt Krugman.
Und die Deflation? In der Tat gingen die Inflationsraten 2012 trotz der Geldschwemme zurück. Deshalb fordert Michael Woodford, Geldtheoretiker an der Columbia University, etwas in Kerneuropa ganz und gar Verpöntes: die Verdoppelung des Inflationsziels von rund zwei Prozent. Japan hätte sich so aus seiner Misere befreien können, meint Woodford.
Die Troika verfolge bedauernswerterweise einen alternativen Weg dazu, nämlich Deflation in Südeuropa zu erzwingen, malt Krugman den Teufel an die Wand. (Michael Schwendinger, DER STANDARD, 30.8.2012)