Gräfliche Gnaden verspüren die Last des frühen Lebensabends. Arpad Pazmandy bewohnt als rüstiger Senior eine zauberhafte Villa neben dem Lainzer Tiergarten. Seine auch schon in die Jahre gekommene Tochter Mizzi - sie zählt 37 Lenze - frönt der Ungebundenheit und malt mit wachsender Meisterschaft Blumenbilder. In Arthur Schnitzlers Einakter "Komtesse Mizzi oder Der Familientag" (1908) ist die Welt von gestern wie in Bernstein gegossen: Graf Pazmandy weist den Diener an, sein Pferd - den "Krampen" - ordentlich abzureiben; der beendete Ausritt sei für Ross wie für Reiter "feurig" gewesen.
Es mögen einem skeptischen Wiener Liberalen wie Schnitzler die Standesvorrechte der k. u. k. Aristokraten als überholt erschienen sein. Sein Spott jedoch, den er über Pazmandy und dessen unwesentlich jüngeren Freund, den Fürsten Ravenstein, ausgießt, verliert an Schärfe, wenn man an die damaligen Gepflogenheiten des vermögenden Bürgertums denkt.
Vom Adel leiht sich die Belle-Époque-Gesellschaft ihre unbändige Darstellungslust. Die Anhäufung erlesener Gegenstände in den Ringstraßenpalästen ist eine übernommene Gewohnheit. Der gezierte Faltenwurf seines Brokatvorhangs ersetzt somit dem Philister das alte Ordnungsgefüge, in dem der Aristokrat seine herausgehobene Stellung genoss. Dem Adeligen fielen Privilegien zu, die er mit der vorgegaukelten Untadeligkeit seines Lebenswandels recht billig bezahlte.
In "Komtesse Mizzi" ist natürlich nichts so, wie es sein sollte. Den seit vielen Jahren verwitweten Grafen hat soeben seine Mätresse verlassen. "Lolo", die Balletttänzerin, möchte in den respektierlichen Hafen der Ehe einlaufen. Egon Fürst Ravenstein wiederum steht im Begriff, das 17 Jahre zählende Produkt eines außerehelichen Fehltritts in die Gesellschaft seines besten Freundes einzuführen.
Man muss kaum die Finger seiner beiden Hände bemühen, um herauszubekommen, dass Mizzi, das malende gräfliche Fräulein, dem Buben einst das Leben schenkte. Philipp ist ein blonder, nassforscher Gymnasiast, der nur zu bereitwillig in die Rolle des fürstlichen Erbprinzen schlüpft. Kein Wort zu viel fällt zwischen den beteiligten Personen. Trotzdem scheut man davor zurück, sie "Handelnde" zu nennen. Die nebulöse Einsicht in die heilende Wirksamkeit der Zeit stellt Schnitzlers reizvolle Konversationskomödie an die Seite von Hofmannsthals Werken: Mit diesem verband Schnitzler eine Freundschaft, die man nicht anders als missverständlich bezeichnen kann (und tatsächlich zeigten sich beide häufig genug mit dem Werk ihres Gegenübers überfordert).
Die heitere Lösung aller Schicksalsknoten ist ein Theatercoup: Fürst Egon hatte mit der Verleugnung seiner Lendenfrucht nur seine herzkranke Frau schonen wollen. Der nunmehrige Witwer trägt sich Mizzi großzügig als Gemahl an. Leute wie diese noblen Wiener denken ebenso zartfühlend wie lebenspraktisch. Dass die Gemahlin zu einem bestimmten Zeitpunkt schon tot war, "war ein Glück für uns alle".
Das rationale Handeln bleibt, wie immer bei Schnitzler, den Frauen vorbehalten. Mizzi gibt zu verstehen, dass sie auf die Genugtuung einer späten Verehelichung pfeifen könne. Die zum Abschiednehmen gekommene "Lolo" heiratet ihren Fuhrwerksunternehmer: In ihrem Alter könne sie nicht mehr den "freieren Anschauungen huldigen". Der alte Graf dürfte über alles Bescheid gewusst haben. Gottes Ebenbild war in der Monarchie ein alter Kaiser: ein Ohnmachthaber. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 30.8.2012)