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Fall Li Jinpin. Im Juni vergangenen Jahres tauchte ein Foto des Dissidenten am Fenster einer psychiatrischen Klinik in Peking auf. Zu diesem Zeitpunkt wurde Li dort schon über acht Monate festgehalten.

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Liu Caixia ist seit 2010 in einer psychiatrischen Klinik. Er hatte gegen seine Entlassung protestiert, die Behörden ließen ihn daraufhin einweisen.

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Sie werden am helllichten Tag in einen Krankenwagen gezerrt und kommen nicht wieder. In China werden nach Angaben der Menschenrechtsgruppe Chinese Human Rights Defenders (CHRD) jedes Jahr zahlreiche Menschen gegen ihren Willen in psychiatrische Anstalten eingewiesen. In den Kliniken sind sie medizinischer Zwangsbehandlung und Misshandlungen wie Elektroschocks ausgesetzt. Ohne Kontakt zu Anwälten oder Angehörigen haben sie meist keine Chance, ihren Fall vor Gericht zu bringen, oft bleiben sie jahrelang eingesperrt. Lassen die Behörden eine Person einweisen, werden sie gleichzeitig zu deren "Vormund" bestimmt.

Songlian Wang von den CHRD spricht mit derStandard.at über die Willkür der Behörden, die Ohnmacht der NGOs und über Leute wie Jiao Yanshou, der seit 1999 in einer psychiatrischen Klinik festgehalten wird, weil er seine Kündigung nicht akzeptieren wollte.

derStandard.at: In dem Bericht "The Darkest Corner" Ihrer Organisation berichten Sie darüber, dass in China jedes Jahr zahlreiche Menschen gegen ihren Willen in psychiatrische Anstalten eingewiesen werden. Und zwar von Behörden oder der Polizei.

Wang: Ja. Die Behörden und die Polizei nutzen psychiatrische Kliniken als Möglichkeit, Unbequeme und Dissidenten nach Bedarf wegzusperren und sie daran zu hindern, weiter die Behörden zu kritisieren. Wir kennen die genaue Zahl derjenigen nicht, die davon betroffen sind, aber im Bericht beleuchten wir exemplarisch 40 Fälle von Betroffenen.

derStandard.at: Warum ist es so einfach, Menschen einweisen zu lassen?

Wang: Das liegt an einer Vielzahl von Faktoren. Abgesehen davon, dass das Thema rechtlich völlig unzureichend geregelt ist, gibt es auch keine unabhängige Justiz in China. Es existiert kein Gesetz, das sich um die Rechte von psychisch kranken Menschen kümmert. Es gibt zwar einige nationale Gesetze, die einzelne Aspekte des Themas regeln, zum Beispiel im Strafrecht oder in den Regelungen zu den Befugnissen der Polizei. Allerdings sind diese Regelungen so vage und dehnbar, dass man sie vollkommen willkürlich auslegen kann.

Einige lokale Körperschaften haben ihre eigenen Leitlinien für Zwangseinweisungen ausgearbeitet. Diese Regelungen ermöglichen ihnen unfreiwillige Einweisungen in zahllosen Situationen. Sie werden auch nicht kontrolliert oder zur Rechenschaft gezogen. Missbrauch ist vorprogrammiert. In Fällen, in denen Patienten die Krankenhäuser oder die Personen, die sie eingewiesen haben, verklagten, haben die Gerichte keinerlei Bereitschaft gezeigt, sich der Sache anzunehmen und effektive Rechtsmittel zur Verfügung zu stellen. Das heißt, dass psychiatrische Kliniken in einer rechtlichen Grauzone agieren, in der sie sich niemandem gegenüber verantworten müssen.

derStandard.at: Welche Menschen sind betroffen?

Wang: Eigentlich alle, die eine psychische Krankheit haben oder derer auch nur verdächtigt werden. In einem Fall, den wir dokumentiert haben, wurde zum Beispiel eine Frau eingewiesen, weil die Polizei sie verdächtigte, geisteskrank zu sein. Sie habe sich "auffällig" verhalten und sich "außergewöhnlich" geäußert. Ob die Menschen alle tatsächlich krank sind, können wir natürlich nicht bewerten. Es mag sein, dass manche es sind. Wir machen uns aber vorrangig Sorgen um die Rechte aller Patienten von psychiatrischen Kliniken.

derStandard.at: Werden die Krankenhäuser von den Behörden dafür bezahlt, dass sie Menschen gegen ihren Willen aufnehmen?

Wang: Ja.

derStandard.at: Wie ergeht es den Personen in den Krankenhäusern?

Wang: Wenn Personen erst in den Kliniken sind, dann handeln Leitung und Personal der Krankenhäuser nur auf Basis der Wünsche derjenigen, die die Patienten einweisen ließen. Die einweisende Partei wird als Vormund akzeptiert. Der Vormund bestimmt, dass der Patient eingewiesen wird, und auch, wann er wieder entlassen wird.

Diese Vormundschaften wurden eingerichtet, obwohl in den Grundprinzipien des Privatrechts festgeschrieben ist, dass eine Person erst dann für unmündig erklärt werden darf, wenn ein Gericht die Unmündigkeit feststellt und einen Vormund bestimmt. Behandlungen, die in diesen Fällen Medikamente genauso wie Fixierungen und Elektroschocks einschließen, werden ohne die Zustimmungen des Patienten durchgeführt. Die Patienten werden auch daran gehindert, mit ihren Angehörigen oder Freunden Kontakt aufzunehmen.

derStandard.at: Haben Sie ein konkretes Beispiel aus Ihrem Bericht? Sie haben ja mit zahlreichen Patienten sprechen können.

Wang: Die Fälle sind alle in der einen oder anderen Form erschütternd. Ein erschreckender Fall ist zum Beispiel der von Jiao Yanshou, der seit 1999 gegen seinen Willen in einer Psychiatrie ist. Als Arbeiter in einer Fabrik für landwirtschaftliche Geräte in Laizhou City trat Jiao an die Behörden heran mit der Vermutung, einer der Fabriksmanager würde Material aus der Firma stehlen. Das Resultat war, dass er zusammengeschlagen und entlassen wurde. Weil er das nicht akzeptieren wollte, hat Jiao sich etliche Male bei der Stadt- und Bezirksverwaltung beschwert und ging sogar nach Peking, um sein Anliegen vorzubringen. 1999 ließen ihn dann örtliche Behörden unter dem Vorwand, er sei psychisch krank, in die Psychiatrie zwangseinweisen. Dort ist er heute noch.

derStandard.at: Wie reagiert die Regierung auf nationale und internationale Kritik?

Wang: Die Regierung ist sich des Problems bewusst und hat auch schon auf die massive Kritik "reagiert". Derzeit befasst sich die Legislative gerade damit, einen Gesetzesvorschlag zum Thema "Mentale Gesundheit" zu überarbeiten. Wir befürchten aber, dass auch der überarbeitete Entwurf viel zu kurz greifen wird, um den Kern des Problems zu treffen und den Forderungen der UN-Konvention zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen zu entsprechen. Und er wird die Bedenken, die wir in unserem Bericht formulieren, nicht lindern. (Manuela Honsig-Erlenburg, derStandard.at, 30.8.2012)