"Angesichts unserer Pornozeit, wo alles im Bett noch raffinierter wird, finde ich es lustig, wertkonservative Haltungen einzunehmen": Romancier Wolf Haas.

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STANDARD: Herr Haas, "Verteidigung der Missionarsstellung" ist einerseits ein genialer Romantitel, andererseits...

Wolf Haas: ... kommt sie im Roman nicht vor.

STANDARD: Die Missionarssstellung gilt unter den Sexualpraktiken als Stiefmütterchen. Warum gibt man vor, diese verteidigen zu müssen?

Haas: Angesichts unserer Pornozeit, wo alles im Bett immer noch raffinierter wird, finde ich es lustig, wertkonservative Haltungen einzunehmen. Wenn die Leute den Titel hören, lachen sie und glauben, sie lachen über die Missionarsstellung. Aber das eigentlich Interessante ist der Begriff "Verteidigung", der moralische Anspruch.

Das Buch beginnt damit, dass ein Mann eine Frau anspricht, die ihm gefällt. Das ist im Grunde auch, was man als Autor macht. Man wirbt um seine Leser. Man schützt dabei natürlich immer etwas anderes vor, als es sich dann nach zehn Jahren Beziehung herausstellt. Sagen wir, beim Titel handelt es sich um ein kokettes Hereinlocken.

STANDARD: Angesichts der ins Kraut schießenden Pornokanäle steht die Missionarsstellung auch für "good, clean fun". Man wirbt nicht damit, dass man mit einer Frau schmutzigen Sex machen will, sondern sagt: Lass uns einander respektvoll behandeln.

Haas: Ich bin selber überrascht, wie sehr der Romantitel "fährt". Eigentlich bin ich auf den Titel während des Schreibens eines Dialogs gekommen, in dem es darum geht, dass es in unserer Sprache immer nur Begriffe für die Ausnahme gibt, aber nicht für die Regel. Es heißt zum Beispiel "Kreisverkehr" oder "Kreuzung", aber was sagt man zu einer einfachen geraden Straße? Der Einwand dagegen lautet: Doch, es gibt zum Beispiel die Missionarsstellung.

STANDARD: Im Roman geht es immer wieder auch darum, selbstverständliche Begriffe zu hinterfragen. An einer Stelle wird etwa erörtert, warum man "Unfug" reden kann, aber nicht "Fug". Arbeiten Sie hier Ihr Studium der Sprachwissenschaften in Salzburg auf?

Haas: Das Sexuelle im Buch findet auch nur auf sprachlicher Ebene statt. Es gibt ja keine einzige Sexszene. Bloßes Geschichtenerzählen wäre mir zu langweilig. Da arbeite ich lieber nach dem Baukastenprinzip und bringe mehrere Ebenen ins Spiel. Das ist doch auch ganz lustig. Jedes interessante Stück Musik, Literatur, Kunst enthält ein Element der Selbstreflexion. In meinem Fall kommt das natürlich bezüglich der Sprachphilosophie recht explizit daher. Dass zum Beispiel der Brenner in seinen Romanen eine Sprache verwendet hat, die es so gar nicht gibt, war auch ein Moment der Selbstreflexion.

STANDARD: Die "Verteidigung der Missionarsstellung" ist einerseits ein sehr reflexionsreiches Buch, andererseits ist es im Gegensatz zu den Brenner-Romanen nicht so stark von Ereignisarmut gekennzeichnet. Beim Brenner passiert ja eigentlich immer ziemlich wenig. Kann man sagen, dass es Ihnen mehr darum geht, Situationen zu schaffen, die Sie dann umkreisen, als die Handlung voranzutreiben?

Haas: Beim neuen Roman habe ich es leicht gehabt, weil die Grundidee darauf beruht, die Liebeswirren eines jungen Mannes anhand der zeitlichen Eckpunkte dieser alle paar Jahre auftauchenden blöden Seuchen wie Schweinegrippe, Vogelgrippe oder Rinderwahn zu erzählen. Eine Struktur war also vorgegeben, ein Fortschreiten der Handlung hat sich aufgedrängt. Man muss allerdings dazusagen, dass diese Seuchen zwar immer angekündigt werden, dann aber bei uns nie so richtig ankommen. Das ist ja schon für sich eine interessante Form der Erzählung.

Ein zweiter Auslöser für den Roman war der Vortrag eines Psychologen auf Ö1, der den schönen Satz gesagt hat, dass die erste Verliebtheit eines Menschen den psychologischen Kriterien einer Psychose entspricht. Das ist doch eine sensationelle Aussage! Die länger währende Form der Liebe hat laut ihm dann übrigens die Form einer leichten Neurose. Das Wahnhafte und die Seuchen haben sich also zu einem Roman kurzgeschlossen.

STANDARD: Früher war eine Grippewelle eine Grippewelle. Heute wird sie hysterisiert und bekommt spezielle Namen. Selbst Wirbelstürme und Tiefdruckgebiete tragen heute männliche und weibliche Vornamen. Muss man das Kind heute immer gleich beim Namen nennen?

Haas: Eine Vogelgrippe erzählt sich besser als eine normale Grippe. Der erste Satz des Romans lautet übrigens: "Verrate mir bitte nicht deinen Namen." Das macht es schwebender, spannender. Übrigens glaube ich mich zu erinnern, dass, als wir Kinder waren, diese wahnsinnig gefährliche Hongkong-Grippe umging.

STANDARD: Warum arbeiten Sie im Roman häufig mit Versatzstücken aus der Geschichte der experimentellen Literatur? Sind das Fingerübungen? Wenn etwa der Protagonist Benjamin Lee Baumgartner Lift fährt, fährt auch das entsprechende Textmodul auf dem Papier von oben nach unten.

Haas: Objektiv gesagt mache ich das. Subjektiv gesagt ist das ein Horrorszenario für mich, dass das beim Leser so ankommt. Wie alle meine Bücher war "Verteidigung der Missionarstellung" als ganz normales Buch geplant. Dann gibt es allerdings die Romanstelle, an der die Frau eine Bluse im Paisley-Muster trägt. Ich habe mir gedacht, bevor ich das Muster lang beschreibe, ist es doch viel lustiger, wenn der fortlaufende Text die Form des Musters nachfährt. Es sind dann ja auch nur sehr vereinzelte Einsprengsel im Buch. Ab und zu ein bisschen nebenbei Durchdrehen finde ich reizvoll.

STANDARD: Geistvolles Blödeln mit dem historischen Bewusstsein, dass es das in der Literatur schon gegeben hat?

Haas: Es hat etwas Verschmitztes. Die Motivation ist immer dieselbe, meine Unlust, Dinge zu beschreiben. Gewisse Dinge sollen sich schneller vermitteln.

STANDARD: Thomas Bernhard sagte einmal, er beschreibt keine Umgebung in seinen Romanen, denn wenn er "Wiese" schreibt, weiß ohnehin jeder, wie diese ausschaut. Verwenden Sie deshalb die immer wieder auftauchenden, in Klammern gesetzten Memos und Regieanweisungen für den in der "Missionarsstellung" als halbwissender Erzähler mitspielenden Autor "Wolf Haas"? Ein Beispiel: "Hier noch London-Atmosphäre einbauen. Leute. Autos. Häuser. 1988. The Blick from the Bridge."

Haas: Von Ernst Jandl gibt es ein Naturgedicht: "heu / see". Ich weiß, dass es viele Leser gibt, die gern in dicken Romanen versinken, aber ich bin das Gegenteil. Von jedem Wälzer kann man locker mindestens die Hälfte und ohne Verlust kürzen. Mich freut es ja auch, wenn ich merke, dass sich "London-Atmosphäre" genauso gut vermittelt wie eine dreiseitige Beschreibung der Stadt.

Ich mag es auch überhaupt nicht, wenn ich ein Buch lese und merke, der Autor ist da irgendwo hingefahren und lässt das jetzt in den Roman "einfließen". Das hat etwas Anmaßendes. Was soll ich beispielsweise groß über China schreiben? Das ist doch gar nicht recherchierbar. Deshalb kippt der Text dann auch kurz einmal ins Chinesische. Die Unvermittelbarkeit einer fremden Kultur vermittelt sich dadurch besser.

STANDARD: Mein Chinesisch ist etwas eingerostet. Machen diese Passagen Sinn?

Haas: Ja, ja. Das ist ein richtiger Text. Der Roman ist aber auch ohne Rückübersetzung ins Deutsche verständlich. Betrachten Sie es als eventuelles Bonus-G'schichtl. Real erlebte Geschichten fügen sich ja oft ganz schlecht in einen Roman ein, erfundene funktionieren meist besser. Die chinesische Passage ist insofern die einzige tatsächlich erlebte Geschichte im Buch.

STANDARD: Es ist ja auch relativ egal, wie in Ihren Brenner-Romanen etwa Kitzbühel oder Graz wirklich aussehen, wenn jeder aus eigener Anschauung davon ohnehin schon ein bestimmtes Bild vor Augen hat.

Haas: Grundsätzlich muss ich sagen, dass ich das Schreiben deshalb so reizvoll finde, weil es mich nicht gar so sehr interessiert, wie die Welt wirklich ist. Ich will etwas dazuerfinden. Diese Pest der Provinzromane und die Behauptung, jedes Kaff sei irgendwie interessant und habe Abgründe, das lehne ich zutiefst ab.

STANDARD: Die Leute sind oft schon langweilig genug, aber Landschaften sind meist noch langweiliger. Besteht aus Ihrer Sicht zwischen einem Sonnenuntergang in den Bergen und einem am Meer also nur ein unwesentlicher Unterschied?

Haas: Das Wesentliche beim Schreiben ist die Unterhaltung. Ich verstehe auch nie, wenn sich Eltern beklagen, dass Kinder den ganzen Tag am Computer spielen. Für mich ist Lesen nichts anderes. Wenn die reale Welt nicht genügend Unterhaltung bietet, muss man sich eben anderweitig umsehen. Den Aspekt des Ungesunden, den man dem Computerspielen unterstellt, hat das Lesen auch. Eskapistische Weltabwendung, Vermeidung realer Konflikte. Früher hat es ja auch geheißen: Lesen ist schlecht für die Augen.

STANDARD: Es hat auch geheißen: Versteckst du dich schon wieder hinter einem Buch?

Haas: Den Spruch kenne ich nicht. Ich habe in meiner Jugend nie gelesen. Aber heute bedeutet Lesen für mich, mich einzuigeln, mit eingezogenen Schultern den Kopf ins Buch zu stecken. Ein Buch ist eigentlich eine starre, abweisende Angelegenheit, gegen die ich ankämpfen muss. Deshalb tauchen dann in den Romanen auch all diese Seltsamkeiten auf. Sollte das Buch in Papierform einmal verschwinden und auf andere, geschmeidigere Medien übergehen, würde mir der Gegner abhandenkommen. Ich werde übrigens kaum je so aggressiv, wie wenn mich jemand beim Lesen stört.

STANDARD: Sie beschreiben nicht nur keine Landschaften und haben über die Jahre auch nur wenig Handlung zu bieten. Nach dem Brenner kommt jetzt auch Benjamin Lee Baumgartner, der Sohn eines Navajo-Indianers und einer Deutschen aus dem bayerischen Simbach, merkwürdig blass daher.

Haas: In der Literaturkritik werden dauernd "plastische Charaktere" und "Welthaltigkeit" eingefordert. Insofern bin ich das klassische Feindbild. Obwohl vielleicht Literaturkritiker auch mehr Buch- als Welterfahrung zu bieten haben.

STANDARD: Apropos Bucherfahrung: Betreiben Sie mit den zahlreichen akademischen Exkursen in die Sprachphilosophie auch so etwas wie Trauerarbeit bezüglich Ihrer Studentenzeit? Einerseits machen Sie sich darüber lustig, andererseits nehmen Sie diesen Ballast, etwa die Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache, sehr ernst.

Haas: Am Anfang war der bayerische Indianer. Das ist mir so flott von der Hand gegangen, dass es mir fast unangenehm wurde. Deshalb habe ich Gletscherspalten in den Text einzubauen begonnen, in die man hinunterplumpst. Einerseits ist die Studentenzeit, die jeder erlebt hat, arschnormal, andererseits sind diese damals so wichtigen, überlebensgroßen intellektuellen Inhalte, von denen man sich später im Leben vergeblich noch viel mehr erhofft hat, einfach auch eine Realität gewesen.

STANDARD: Wird nicht einfach in späteren Jahren das G'scheiteln und klug Daherreden zu anstrengend?

Haas: Es handelt sich um eine intellektuelle Form des Kitschs. Wenn jemand aus dem "Kleinen Prinz" von Antoine de Saint-Exupéry zitiert, wird er ausgelacht. Wenn jemand mit Wittgenstein angibt, der durchaus vergleichbar schreibt, kann er punkten. Worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen, das ist doch eins zu eins der "Kleine Prinz".

STANDARD: Vielleicht ist es auch die Erfahrung aus der Schulzeit, dass die Frauen lieber den Sportlern nachrennen als den Wittgenstein-Zitierern.

Haas: Oder sie sind den Burschen nachgerannt, die schon ein Auto gehabt haben. Letztlich geht es um die Frage: Wie authentisch sind die eigenen Gefühle? Früher hätte man gesagt, es handelt sich hier um ein "diskursives Spiel". Allerdings bin ich relativ pessimistisch, dass man seinen Selbsttäuschungen entkommen kann. Es geht um den ewigen Kampf zwischen Zerstreuung und Sammlung. Man will sich zerstreuen, hat aber die fixe Idee, dass es im Leben um etwas Wertvolleres als diese Zerstreuung gehen könnte. Sobald man das ausspricht, wird es kitschig. Im Buch wird das gestreift, ohne es zu benennen.

STANDARD: Baumgartner taumelt durch das Leben, ohne Entscheidungen zu treffen.

Haas: Er ist ein Opfer.

STANDARD: Am Ende sitzen "Wolf Haas" und Baumgartner im Reha-Zentrum und fragen einander: Wie kommst denn du hierher?

Haas: Ja, das ist sehr fatalistisch, fast wie das Ende eines Brenner-Films. Ich scheine mich instinktiv gegen einen stimmigen Charakter zu wehren, der sich entwickelt. Ich schreibe nicht über einen Mann, der sich den Fuß bricht und dann bei einem guten Physiotherapeuten wieder ordentlich gehen lernt. Bei mir geht er auf Krücken. (Christian Schachinger, Album, DER STANDARD, Langversion, 1./2.9.2012)