"Man muss auch ein bisschen Mut haben und konsequent bleiben und weiterfördern": Julian Baker.

Foto: julian baker

Die Velostation Milchgässli am Bahnhof Bern ist Radgarage und Dienstleistungszentrum zugleich.

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In dem sozioökonomischen Betrieb lassen sich die Räder sicher abstellen, ...

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... es gibt ein Reparaturservice und man kann das Fahrrad auch reinigen lassen.

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Der Schweizer Verkehrsplaner Julian Baker kennt Wien aus Studientagen und weiß, dass es die Radfahrer in der Stadt oft nicht leicht haben. Er versteht aber auch die Fußgänger, die sich über rücksichtslose Biker ärgern. Wie dieser derzeit hochgepushte Konflikt auch ohne Nummerntafeln für Radler zu lösen ist und wie aus Wien eine fahrradfreundliche Stadt werden kann, erläutert er im Gespräch mit derStandard.at.

derStandard.at: Sie leben in der Schweiz, waren aber bis vor zehn Jahren in Wien ansässig und sagen, dass Sie einen starken Bezug zu der Stadt haben. Wie gut oder schlecht geht es den Radfahrern in Wien?

Baker: In den 90er Jahren, als Student, bin ich wegen des Verkehrs fast nie aufs Rad gestiegen. Mittlerweile verwende ich das Rad, wenn ich in der Stadt auf Besuch bin. Es ist in den letzten zehn, 15 Jahren also schon etwas passiert. Allerdings ist die Fahrradnetzplanung noch nicht ganz konsistent. Velostationen - Velo ist ja der schweizerische Begriff für das Rad - fehlen aus meiner Sicht. Das wäre ein wichtiges Thema in Wien.

derStandard.at: Wie weit ist die Schweiz bei der Fahrradverkehrsplanung Österreich voraus?

Baker: In der Schweiz hat man schon ein bisschen früher angefangen zu planen. Mitte der 90er Jahre ist die erste Velostation in einem Bahnhof in Betrieb gegangen. Heute gibt es in der Schweiz etwa 30 davon. Außerdem sind in der Schweiz alle Beteiligten stärker eingebunden, so dass die Fahrradlobby im Vorfeld bei der Planung viel mehr zu sagen hat. Das hat vielleicht auch etwas mit der Tradition der direkten Demokratie in der Schweiz zu tun. Man bezieht lieber die Stakeholder vorzeitig ein, als dass man riskiert, bei einer Abstimmung eine Niederlage zu kassieren.

derStandard.at: Was genau unterscheidet eine Velostation von einem einfachen Abstellplatz für Räder?

Baker: Eine Velostation ist nicht einfach nur eine Radgarage, sondern ein Dienstleistungszentrum, wo man die Räder sicher abstellen und Dienstleistungen im Zusammenhang mit Fahrrädern in Anspruch nehmen kann. Man hat dort zum Beispiel ein Reparaturservice oder kann das Fahrrad reinigen lassen.

In der Schweiz geht das oft mit einem sozioökonomischen Betrieb einher: Man versucht, Langzeitarbeitslose oder sozial Benachteiligte wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das wird von den Kunden sehr geschätzt, und diese entscheiden sich deshalb dann vielleicht lieber dafür, etwas zu bezahlen und hier ihre Fahrräder einzustellen.

derStandard.at: Wissen Sie, ob es in Wien Pläne für eine Velostation gibt?

Baker: Soweit ich weiß, hat man vor, eine Station am Hauptbahnhof zu eröffnen. Zusätzlich wird es aber keine Abstellplätze im öffentlichen Raum um den Bahnhof geben. Es wird auch keine kostenlosen Abstellplätze geben, nur kostenpflichtige.

derStandard.at: Müsste es an einem öffentlichen Platz und Verkehrsknotenpunkt wie einem Hauptbahnhof nicht auch Gratis-Abstellplätze geben?

Baker: Man muss im öffentlichen Raum kostenlose Plätze anbieten. Die Bahnhöfe sind ja heute richtige Dienstleistungszentren und haben eine umfassende Funktion in der Stadt. Da ist es wichtig, dass man mit dem Fahrrad dort ankommen und seine Erledigungen machen kann. Es braucht prinzipiell eine gute Mischung aus kostenpflichtigen und kostenlosen Abstellplätzen. Ein Teil der Radfahrer ist auch gar nicht bereit zu zahlen. Sie fahren zum Bahnhof und wollen dann ihr Rad möglichst schnell abstellen.

derStandard.at: Wahrscheinlich soll der Vorplatz des neuen Hauptbahnhofs von kreuz und quer abgestellten Rädern freigehalten werden.

Baker: Ich kann verstehen, dass man einen schön gestalteten Vorplatz freihalten will. In Basel hat man das so gelöst, dass die Velostation sowohl über kostenlose als auch kostenpflichtige Parkplätze verfügt. Die Gratis-Parkplätze sind einfach weiter weg von den Gleisen, bei den kostenpflichtigen ist man wirklich ganz nah dran. In Bern führen die Fahrradverbindungen zu den Seiteneingängen des Bahnhofs, wo es ganz viele Abstellplätze gibt.

derStandard.at: Wie könnte man generell das Chaos, das zu viele abgestellte Räder manchmal verursachen, in den Griff bekommen?

Baker: In der Schweiz wird konsequent ein Fahrradordnungsdienst betrieben. In Bern gibt es Velostationen am Bahnhof in Zusammenhang mit dem erwähnten Beschäftigungsprojekt. Die dort beschäftigten Personen schauen unter anderem darauf, dass die Fahrräder im Bahnhofsumfeld am richtigen Ort abgestellt sind und dass sie nicht Wege blockieren. Fahrräder, die im öffentlichen Raum entsorgt worden sind, werden entfernt. So ist genug Platz für die Pendler, die mit ihren Fahrrädern kommen, und für die Fußgänger. In Bern zahlt die SBB (Schweizerische Bundesbahnen, Anm.) etwa 100.000 Franken (rund 83.000 Euro) im Jahr für den Ordnungsdienst und sorgt so dafür, dass im Bahnhofsumfeld Platz für alle ist.

derStandard.at: Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit eine Stadt als "fahrradfreundlich" gilt?

Baker: Für eine fahrradfreundliche Stadt braucht es eine konsequente Planung. Man benötigt ein gutes Fahrradnetz und ausreichend Abstellplätze an den Zielorten der Radfahrer. Beim Fahrradnetzwerk hat man in der Schweiz konsequent diesen Weg verfolgt: Das Fahrrad ist ein Fahrzeug und gehört deshalb auf die Straße und nicht auf den Gehsteig, denn dort sind die Konflikte mit den Fußgängern vorprogrammiert. Dementsprechend muss man die Verkehrsführung gestalten, Tempo herausnehmen, den Fließverkehr und die Parkplätze anders organisieren und vielleicht auch an manchen Orten reduzieren.

derStandard.at: Wie sieht es mit der Verknüpfung von Rad- und öffentlichem Verkehr aus?

Baker: Die Verknüpfung zum öffentlichen Verkehr ist wichtig und stärkt diesen ja auch. Man weiß aus Untersuchungen aus Deutschland und der Schweiz, dass für etwa 30 Prozent der Bahnkunden das Thema Fahrrad von Interesse ist. Man weiß auch, dass 50 Prozent der Menschen, die Bahn und Fahrrad kombinieren und zum Beispiel pendeln, bereit wären, für das Abstellen ihres Rades etwas zu bezahlen.

derStandard.at: Eine gelungene Verknüpfung von Rad- und öffentlichem Verkehr könnte zu einer Reduktion des motorisierten städtischen Verkehrsaufkommens beitragen?

Baker: Wenn man die Leute mit dem Fahrrad zum öffentlichen Verkehr bringt, kann man den Platz viel effektiver nutzen. Wenn ich mir den motorisierten Verkehr anschaue, dann braucht ein Parkplatz zehn Quadratmeter. Auf der gleichen Fläche kann ich fast zehn Fahrräder abstellen. Das ist in einer dicht bebauten Stadt, wo der Platz knapp ist, ein wichtiges Argument. Zehn bis 15 Prozent der Leute, die mit dem Auto zum Bahnhof fahren, würden, wenn es dort ein gutes Angebot gibt, auf das Fahrrad umsteigen. Man spart dadurch Platz.

derStandard.at: In Wien wird gerade über Nummerntafeln für Fahrräder diskutiert. Wie sehen Sie diesen Vorschlag?

Baker: Nummerntafeln auszuteilen halte ich für eine Schikane für Radfahrer. Ich verstehe den Aufschrei der Wiener Fußgänger, die sich darüber beschweren, dass Fahrradfahrer auf dem Gehsteig fahren und sich rücksichtslos verhalten. Das ist meiner Meinung nach aber auch ein Zeichen dafür, dass man die Radfahrer auf den falschen Wegen durch die Stadt führt. Dass man sie oft auf den Gehsteig zwingt und sie nicht konsequent auf der Straße, zum Beispiel auf Radstreifen, fahren lässt. Mit den Nummerntafeln will man den Konflikt mit der falschen Maßnahme lösen, anstatt auf konsequente Infrastrukturplanung zu setzen.

derStandard.at: Die größte internationale Konferenz zum Thema Radverkehr, die "Velo-city", wird 2013 in Wien stattfinden. Eine Chance, um verstärkt an der Wiener Radpolitik zu arbeiten?

Baker: Man sieht, mit welcher Dynamik das Thema Fahrrad auch international angegangen wird. Ich denke, Veränderungen benötigen aber einfach ihre Zeit, man muss ein bisschen Geduld haben. Es braucht Vertreter sowohl in der Verwaltung als auch bei den Lobbys, die wirklich fürs Radfahren einstehen und konsequent die Knochenarbeit machen. Es ist eine langwierige Arbeit und braucht viel Know-how.

Ich kann mir vorstellen, dass die "Velo-city" eine Diskussion anregt und man vielleicht Bilanz zieht und darüber nachdenkt, wo man hinwill und wie man das schaffen kann. Ein Meilenstein für die Wiener Radpolitik ist die Konferenz auf jeden Fall.

derStandard.at: Auf Maßnahmen zum Ausbau der Fahrradinfrastruktur folgt oft der Aufschrei: zu teuer! Angesichts der Investitionen in den motorisierten Verkehr handelt es sich allerdings immer um Peanuts. Ist die Wiener Bevölkerung besonders radunfreundlich?

Baker: Ich denke, so ein Aufschrei zeigt, wie wichtig das Thema grundsätzlich ist, sonst würde es ja irgendwo versickern. Aber auch in der Schweiz gibt es diesen Aufschrei, und es hat ihn auch in der Vergangenheit immer stark gegeben. Ich merke, dass in jenen Schweizer Städten, in denen man vielleicht ein bisschen inkonsequent war und die Fahrradfahrer häufiger auf den Gehsteig führt, so ein Aufschrei viel größer ist.

Ich denke, der Aufschrei wird immer da sein, aber je mehr Leute wirklich Rad fahren, desto ausgewogener wird das Ganze auch werden. Ein Beispiel aus der Stadt Bern: Im Sommer sind mittlerweile knapp 30 Prozent der Bevölkerung täglich mit dem Fahrrad unterwegs. Das ist eine Menge, die man irgendwann nicht mehr ignorieren kann. Da muss man auch ein bisschen Mut haben und konsequent bleiben und weiterfördern. (Sarah Dyduch, derStandard.at, 2.9.2012)