Hilde Schmölzer, geb. 1937 in Linz; 25 Jahre freiberufliche Journalistin und Fotografin; seit 1990 Autorin mit Schwerpunkt Frauengeschichte. Zuletzt erschienen "Das böse Wien der Sechziger" (Mandelbaum, Neauflage 2008) und "Frauenlieben" (Promedia 2009).

Foto: Standard/Heribert Corn

Als Mensch blieb sie aber unsichtbar. Eine Annäherung.

Sie ist das Alter Ego Georg Trakls in der Literaturgeschichte, die "Schmerzverschwisterte", sein Ab bild, "Abglanz", Süchten verfallen so wie er und so wie er früh gestorben durch eigene Hand. Er hat sie an die sechzig Mal in seinen Gedichten und Prosatexten angerufen, die "Jünglingin", die "Fremdlingin", die "Mönchin", er hat sie verklärt und dämonisiert, und er kam nicht von ihr los, ebenso wenig wie sie von ihm.

Der Geschwistermythos mit seinem Ursprung in Schöpfungsmythen und Religionen, der eine Geschwisterliebe beschreibt bis hin ein in den Tod, eine Liebe der Auserwählten, der Vollkommenen, aber auch der Verdammten, Verfluchten, die sich außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung befinden. Georg Trakl hat ihn nicht nur dichterisch gestaltet, er und seine Schwester Margarethe haben ihn auch gelebt.

Die Nachwelt hat daraus ihre eigene Geschichte gesponnen. Für sie wurde Margarethe mit ihrer Alkohol- und Drogensucht, ihrer Verzweiflung und Todessehnsucht zu einem dunklen Fleck am Bild des verehrten Dichters, dessen Süchte, Schulden und psychotische Persönlichkeit durch sein Genie geadelt und gerechtfertigt erschienen, während sie zu einer "Haltlosen", "Getriebenen", einem Abbild Georgs, "nur ganz ins haltlos Weibliche verschoben", seiner "schlechten Copie" mutiert.

Aber wer war Margarethe Trakl wirklich? Wer war diese Schwester-Geliebte und einzige Frau, die Georg Trakl etwas bedeutet hat, die er sich als Androgyn fantasiert, in dem er die Geschlechterdifferenz und Geschlechtlichkeit aufheben will, und die er zu seinem zweites Ich macht, das er sich einverleibt, auslöscht, tötet. "Lass namenlos dich sein in mir", dichtet Georg, der die fiktive Schwester in seiner Lyrik unsterblich gemacht hat. Als reale Person allerdings bleibt sie weitgehend unsichtbar, hat die Trakl-Rezeption sie nicht nur verzerrt, sondern ihr auch nur äußerst dürftige Kommentare gewidmet. Nicht einmal ihr Grab ist bekannt.

Es ist eine schwierige Spurensuche, aus den wenigen erhaltenen Briefen an Familienmitglieder und Freunde (der Briefwechsel zwischen ihr und Bruder Georg wurde vernichtet) und aus dem, was uns Zeitgenossen überliefert haben, einer Persönlichkeit nachzuspüren, die keine Persönlichkeit haben durfte.

Margarethe Jeanne Trakl wurde am 8. August 1891 als jüngstes Kind des angesehenen Kaufmanns Tobias Trakl und seiner Frau Ma ria in Salzburg geboren und war damit knapp viereinhalb Jahre jünger als Georg. Sie hatte fünf weitere Geschwister und einen Halbbruder aus der ersten Ehe ihres Vaters. In allen Trakl-Biografien wird die Ähnlichkeit Georgs und Margarethes betont, beide waren sie künstlerisch interessiert, er der Dichter, sie musikalisch hochbegabt, das schweißte zusammen, das schaffte eine Gemeinsamkeit, bot Liebe und Wärme in einer Familie, in der die Mutter als kalt und der Vater als uninteressiert beschrieben wird.

Maria war eine unglückliche Frau, sensibel und empfänglich für die schönen Künste, überfordert von rasch aufeinanderfol genden Schwangerschaften und einem großen Haushalt, vor dem sie sich in ihre umfangreiche An tiquitätensammlung zurückzog. Georgs psychische Fehlentwicklung wird in der gesamten Trakl-Rezeption auf die fehlende Mutterliebe zurückgeführt, die auch in seiner Lyrik mehrfach zum Ausdruck kommt.

Während er früh zu schreiben begann, erhielt Margarethe bereits mit sechs Jahren Klavierunterricht beim Salzburger Komponisten Brunetti Pisano, der sie auch zum Komponieren angeregt haben soll. Aber sie wollte Pianistin werden - auch das für eine Frau an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein kühner Wunsch. Mit siebzehn Jahren hat sie die Wiener Musikakademie besucht, aber warum sie ihr Studium bereits nach einem Semester abgebrochen hat, bleibt rätselhaft.

Wahrscheinlich wurden nicht nur Georgs, sondern auch ihre Wurzeln früh gebrochen. Aber während er ein hilfreiches Umfeld vorfand, das seine Begabung gefördert hat, musste sie als Frau eher mit Widerstand rechnen. Die Laufbahn einer Pianistin passte nicht in die allgemeine Vorstellung von der Bestimmung der Frau zur Gattin und Mutter.

Auch soll sie der pubertierende Georg, der an Sexualängsten und Sexualverdrängung litt, als Kind vergewaltigt oder das zumindest versucht haben. Hinweise dafür gibt es in seiner Dichtung, Beweise gibt es keine. Wie ja überhaupt die Frage, ob diese Beziehung in der Realität inzestuös gewesen ist oder lediglich in Georgs dichterischer Fantasie, wohl nie beantwortet werden kann. Seltsam erscheint, dass Margarethe oder Grete, wie sie genannt wurde, als Zehnjährige aus der Schule in Salzburg genommen und zu den Englischen Fräulein nach St. Pölten geschickt wurde. Die Annahme, dass dem ein dramatisches Ereignis innerhalb der Familie vor an gegangen war, erscheint naheliegend, war es doch äußerst unüblich, Kinder in diesem frühen Alter in ein Pensionat zu schicken.

Die strenge Erziehung in diesen katholischen Mädchenpensionaten zu weiblicher Sittsamkeit, Gehorsam und Bedürfnislosigkeit, wie sie auch in dem Erziehungsheim Notre Dame de Sion in Wien üblich war, in dem Margarethe anschließend die Bürgerschule besuchte, lässt die Vorstellung einer sinnlichen und hemmungslosen Verführerin, "unmädchenhaft" und "aggressiv" - auch so wird sie in Trakl-Biografien beschrieben -, als besonders absurd erscheinen. Ihre Briefe lassen vielmehr das Bild eines eher unsicheren, von Selbstzweifeln geplagten jungen Menschen entstehen.

Dass Georg seine jüngere, ständig ein wenig kränkelnde Schwester in der gemeinsamen Wiener Zeit - er absolvierte dort ein Pharmaziestudium - oder vielleicht schon früher zu Drogen verführt hat, die er seit seiner Schulzeit konsumierte, gilt als gesichert. Er hat damit ihr Leben zerstört und zeitlebens an schweren, quälenden Schuldgefühlen gelitten.

Margarethes weiteres Leben ver lief dramatisch. Sie hat nach ih rem gescheiterten Musikstudium in Wien bei Ernst von Dohnanyi an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Berlin studiert, allerdings wieder nur ein Semester, worauf sie sich mit dem Neffen ihrer Zimmerwirtin, Arthur Langen, verlobte, den sie 1912 trotz Widerstand ihrer Familie geheiratet hat. Ihr Studium in Berlin, die Heirat und eine Affäre, die sie mit Trakls engem Freund Erhard Buschbeck gehabt haben soll, wirken wie Fluchtversuche aus der klammernden Liebe Georgs. Trotzdem bedeutete die Trennung der Geschwister für beide den endgültigen Absturz.

Margarethe hatte im März 1914 eine Fehlgeburt - oder Abtreibung? -, und es ist möglich, dass Georg der Vater gewesen ist. Seine abgrundtiefe Verzweiflung, die in Briefen aus Berlin, wohin er von der Schwester zu Hilfe gerufen wurde, an seine Freunde zum Ausdruck kommt, spricht dafür. Aber so wie vieles im Leben der Ge schwister muss es auch hier bei Vermutungen bleiben.

Georg Trakl starb mit 27 Jahren im Ersten Weltkrieg nach der vernichtenden Niederlage bei Grodek an einer Überdosis Kokain, weil er die Schrecken des Krieges nicht ertrug. Margarethe, die sich nach dem Tod des Bruders von ihrem Mann trennte, lebte noch weitere drei Jahre in Berlin, einsam und schwer drogenabhängig. Ihre Briefe sind Hilferufe einer verzweifelten jungen Frau, die den Boden unter ihren Füßen verloren hatte. Sie erschoss sich mit 26 Jahren im Beisein von Freunden, nachdem der Schriftsteller und Herausgeber der expressionistischen Zeitschrift Der Sturm Herwarth Walden sie aus einem Hotel, wo sie zuletzt völlig verschuldet lebte, "freigekauft" hatte. Niemand wusste, wie sie in den Besitz der Pistole gekommen war.

In einem seiner letzten erschütternden Gedichte, Grodek, hat Trakl noch einmal die Schwester angerufen wie eine ferne Hoffnung, die trotzdem keinen Trost bringen kann: "Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain / Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter".

Ludwig von Ficker, ein enger Freund Georg Trakls und Herausgeber der Innsbrucker Zeitschrift Der Brenner, in der Trakl häufig publiziert hat, spricht von einem "Opferbild der Schwester, diesem Kreuzigungsschatten seiner selbst" und verklärt in seiner Grabrede im Oktober 1925, als Georg Trakls sterbliche Überreste von Krakau nach Salzburg überführt und auf dem Mühlauer Friedhof beigesetzt wurden, die geopferte Schwester zur poetischen Gestalt. Ihrer ir ritierenden, verstörenden physischen Existenz enthoben, wird ihr die Rolle der Erlöserin des von quälenden Bildern heimgesuchten Dichters zugedacht. Ihre Individualität, ihre Eigenständigkeit als Mensch und Frau wurde ausgelöscht. Überlebt hat sie als Fiktion in der betörenden Lyrik des Georg Trakl, der als Orpheus den "Schatten der Schwester" besingt, und die "Dunkle Liebe / Eines wilden Geschlechts". (Hilde Schmölzer, Album, DER STANDARD, 1./2.9.2012)