Chamäleon und gelenkiger Artist: Denis Lavant, der für die Premiere seines Films "Holy Motors" in Wien zu Gast war.

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Wien - Die Zusammenarbeit zwischen dem französischen Ausnahmeregisseur Leos Carax und Schauspieler Denis Lavant ist einer der engsten und ungewöhnlichsten im gegenwärtigen Kino. Mit seiner akrobatischen Präsenz machte Lavant erstmals in "Boy Meets Girls" (1984) auf sich aufmerksam. In bester Erinnerung ist auch seine energetische Darbietung neben Juliette Binoche im romantisch-fatalen Drama "Die Liebenden von Pont-Neuf" (1991).

Nun haben Lavant und Carax für einen der aufregendsten Filme des Jahres, "Holy Motors", erneut zusammengefunden - Lavant macht darin als wörtlicher Gestaltwandler von sich reden. Als mysteriöser Monsieur Oscar verkörpert er einen Mann, der in einer Limousine durch Paris fährt, um sich andere Figuren anzuverwandeln: eine Bettlerin, einen Tänzer, den Vater einer Teenage-Tochter, einen Sterbenden ...

Carax' Film ist eine so kühne wie befreiende Arbeit über Ende und Zukunft des Kinos, eine Ode an seine unüberbietbaren imaginären Möglichkeiten.

STANDARD: Sie verkörpern in "Holy Motors" elf verschiedene Rollen. Ist der Traum Ihres Regisseurs auch der Traum für jeden Schauspieler?

Lavant: Auf jeden Fall, es ist ein Geschenk. Als ich das Szenario sah, dachte ich, es würdigt die Schauspielzunft. Doch der Film ist mehr als das. Ich habe ihn jetzt bereits fünfmal gesehen. Er handelt vom Kino, von menschlichen Beziehungen, von den verschiedenen Altersphasen im Leben eines Menschen. Er ist wie ein Gedicht.

STANDARD: Wie stark waren Ihre Figuren schon im Drehbuch festgelegt?

Lavant: Die Personen sind eher plastisch angelegt. Die Szenen waren durchwegs festgeschrieben, doch die Figuren waren Unbekannte, die erst während des Drehs einen Charakter bekommen haben. Es gab eine einzige Figur, die ich bereits kannte, Monsieur Merde, der im Episodenfilm Tokyo! vorkommt. Es ist die Szene, in der ich Eva Mendes entführe und zu meiner "Verlobten" mache. Es ist eine Geschichte wie die Schöne und das Biest.

STANDARD: Mit Carax verbindet Sie eine langjährige Zusammenarbeit, schließt man da nicht automatisch an vergangene Rollen an?

Levant: Es gab Figuren, die sich von Figuren aus früheren Filmen herleiteten, zum Beispiel in der Szene, in der ich Akkordeon spiele. Zunächst war diese Figur definiert wie jene aus Mauvais Sang, aber Leos fand dann ein anderes Aussehen besser. Manche wurden auch schnell dazuerfunden, etwa die letzte Figur des Films, ein Mann, der zu seiner Affenfamilie heimkehrt. Er sollte einen einfachen Arbeiter darstellen, der ganz schnell durch die Frisur und seine Verhaltensweise festgelegt wird. Das Drehbuch, die Dialoge sind bei Leos genau definiert und vorgegeben. Mein Improvisationsspielraum ist begrenzt - es ging mehr um interpretatorische Nuancen.

STANDARD: Es gibt eine Szene im La Samaritaine mit Kylie Minogue, die eine Reverenz an "Die Liebenden von Pont-Neuf" ist. Hat das nostalgische Gefühle geweckt?

Lavant: Was mich persönlich berührt hat, war nicht so sehr, einzelne Figuren wiederzufinden, sondern dieses Netz gemeinsamer Erinnerungen, das den ganzen Film verbindet. Die Szene im La Samaritaine wurde auch Juliette Binoche vorgeschlagen, die aber in diese zu sentimentale Erinnerung nicht zurückkehren wollte. Ich finde in dem Film den Widerhall von 30 Jahren Zusammenarbeit. Für mich ist Holy Motors so etwas wie die Summe unserer Zusammenarbeit.

STANDARD: Wie würden Sie diese Etappen noch einmal zusammenfassen?

Lavant: Es gab drei Stufen: "Boy Meets Girl", was für mich als Theaterschauspieler die Erstbegegnung mit dem Kino war. Das Besondere daran war, dass ich Leos noch nicht kannte und in ein Universum eingetaucht bin, das auch autobiografisch ist. Danach hat er für mich die Rolle in "Mauvais Sang" geschrieben, mit Beobachtungen, die er während der Dreharbeiten von "Boy Meets Girl" gemacht hatte: wie ich auf Händen ging, all diese akrobatischen Einlagen. "Mauvais Sang" war fast wie ein Hindernislauf. Und dann gab es die Etappe "Pont-Neuf", bei der wir versuchten, eine Form von Authentizität zu finden: das Leben auf der Straße, die Sandler, das soziale Elend. Ich ging dabei wirklich an Grenzen. Der Film trug das Risiko einer Beschädigung, mit dieser Erfahrung des Lebens auf der Straße, dem Alkohol.

STANDARD: "Holy Motors" erscheint dagegen artifizieller, wie ein Film des Übergangs. Es gibt eine fulminante Motion-Capturing-Szene, die Altes und Neues zusammenführt: Körper und Technologie.

Lavant: Ich habe immer eine starke körperliche Verbindung zu meinen Rollen. Leos war der Erste, der mich als Tänzer auftreten ließ. Auch Claire Denis hat dieses Talent in Beau Travail abgerufen. Das war Teil meiner Ausbildung. Bevor ich zum Theater kam, war ich Akrobat, Mime, Tänzer. Meine erste Sprache ist die Sprache der Bewegung. Ich wurde in meinen Anfängen sehr vom Burlesken beeinflusst, von Buster Keaton, Chaplin, Harpo Marx.

STANDARD: Die Verkleidungszeremonien in der Stretchlimousine erinnern auch an das Leben eines Gauklers.

Lavant: Das ist mir sehr entgegengekommen. Die Stretchlimousine ist mir mit all ihren Accessoires wie ein Wohnwagen oder eine Loge im Theater erschienen - mit Dingen, die ich brauchte, um mich zu verwandeln. Ein Laboratorium, das eigentlich wie bei mir zu Hause ist.

STANDARD: Haben Sie wirklich in einer Limousine gedreht?

Lavant: Ja, wir haben 15 Tage in der Limousine verbracht. Es war allerdings das Studio einer Limousine. Von außen sehen diese Gefährte groß aus, im Inneren sind sie jedoch nicht sehr geräumig. Deshalb haben wir die Limousine in vier Teile geschnitten, um den Platz zum Drehen entsprechend zu vergrößern. So haben wir die Kamera, den Tonmann, Leos und seinen Hund untergebracht.

STANDARD: Sind Sie sich bei all diesen Rollenwechseln auch selbst näher gekommen?

Lavant: Als ich fertig war, dachte ich mir, der Film hat den Wert einer guten Psychotherapie! Die intensivsten Vorbereitungsarbeiten waren die Schminksitzungen. Es gab ziemlich genaue Vorgaben und etliche Rollen, für die man fünf Stunden lang geschminkt werden musste. Und als ich sah, wie sich mein Gesicht veränderte, während ich innerlich derselbe blieb, wie ich alterte, dicker wurde, einen Schnurrbart erhielt - das waren wirklich Augenblicke einer Innenschau. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 1./2.9.2012)