Kinder brauchen Anwälte, die ihre Bedürfnisse auf die politische Agend bringen, mein Margareta Blennow.

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STANDARD: Was kann die Bildungspolitik an der Gesundheit von Kindern verbessern?

Margareta Blennow: Natürlich hängen die Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern in erster Linie von der Familie ab. Die Frage ist aber auch: Wie kann die Gesellschaft einen gesunden Lebensstil fördern? Da muss man schon im Kindergarten ansetzen. Studien zeigen uns, wie wichtig es ist, dass Kinder viel Zeit draußen verbringen. Sie brauchen einen guten Garten mit Bäumen, Büschen, Hügeln - nicht nur eine flache Wiese mit ein paar Spielgeräten. Dann laufen sie mehr und sind nicht so unkonzentriert. In Kindergärten sollte Bewegung draußen Teil der täglichen Struktur sein, und zwar jeden Tag, bei jedem Wetter.

STANDARD: Und in den Schulen?

Blennow: Dort bleibt das genauso wichtig. Kinder sitzen heute viel zu viel, vor allem vor dem Fernseher und dem Computer. Die Politik muss im Fokus haben, dass Kinder weniger sitzen sollen.

STANDARD: Hängt das letztlich nicht auch von den Lehrern ab?

Blennow: Natürlich. Bei uns in Schweden ist es ja oft kalt und regnerisch, daher haben wir uns viel damit beschäftigt, wie wir die Kinder trotzdem rausbringen können. In Schulen, wo das täglich der Fall ist, sind die Kinder gesünder, weil sie weniger anfällig sind für Viren. Außerdem tun ihnen das Licht und die Natur gut. Lehrer müssen auch Vorbilder sein. Als ich in Österreich war, habe ich gehört, dass man dort fast überall rauchen kann - ich finde das unglaublich.

STANDARD: Was kann in Schulen gegen schlechte Ernährung und Übergewicht getan werden?

Blennow: Zuerst muss man mit den Kindern einfach darüber reden. In Schweden gibt es aber auch eine Regierungsagentur, die Empfehlungen für die Ernährung in Kindergärten herausgibt. Ein Beispiel: Früher gab es jede Woche Geburtstagsfeiern, bei denen es Kuchen und Softdrinks gab. Heute wird nur mehr einmal pro Monat gefeiert. In den Schulen hat jedes Kind das Recht auf ein Essen in der Schule - gesetzlich festgeschrieben. Über die Kosten dafür wurde in letzter Zeit viel diskutiert. Aber es kostet nur elf Kronen pro Tag und Schüler (1,30 Euro, Anm.). Mit einem kleinen Betrag kann man viel tun.

STANDARD: Wie steht es um die medizinische Betreuung?

Blennow: In jeder Schule gibt es eine Krankenschwester, die vielleicht nicht jeden Tag dort ist, aber - je nach Größe der Schule - mehrmals pro Woche. An die können sich die Kinder wenden, ihr erzählen sie auch Dinge, die sie einem Arzt vielleicht nicht erzählen würden, und die Schwestern fragen gezielt nach, wenn ein Kind mit einem Problem kommt: Wirst du in der Klasse gehänselt? Gibt es in deiner Familie Probleme? Die Krankenschwester ist auch Teil eines Netzwerks, bei Bedarf können die Kinder jederzeit zu einem Arzt, einem Sozialarbeiter oder einem Psychologen überwiesen werden. Außerdem haben wir spezielle Kinder- und Jugendkliniken, in die die jungen Leute ohne ihre Eltern kommen können. Da geht es viel um Sex, aber auch um Fragen der Identität.

STANDARD: Wie wird das Thema in Schweden politisch diskutiert?

Blennow: Wir haben in Schweden endlich eine Ministerin für Jugend und Senioren. Das ist symbolisch wichtig, und man kann jetzt endlich jemanden konkret adressieren und sagen: Das muss getan werden, oder Sie haben das verabsäumt. Die Regierung hat sich sehr mit der Forschung über die Lebenswelten von Kindern beschäftigt. Wir haben auch einen Kinderombudsmann, der aufzeigt, wenn sich Schweden nicht an die UN-Kinderrechtskonvention hält - mit entsprechendem medialen Nachhall. Es ist auch die Aufgabe von uns Kinderärzten, Anwälte der Kinder zu sein und ihre Bedürfnisse auf die politische und gesellschaftliche Agenda zu bringen. (Andrea Heigl, DER STANDARD, 1.9.2012)