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Betroffene erleben sich selbst und/oder die Umwelt dauerhaft oder über einen längeren Zeitraum als unwirklich...

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... aber "selbst schwerste Zustände von Depersonalisation und Derealisation sind den Patienten nicht anzusehen", sagt Matthias Michal.

Foto: Matthias Michal

Menschen, die sich dauerhaft wie abgetrennt von ihrer Umgebung erleben, diese als unwirklich wahrnehmen oder sich fühlen, als ob sie nicht wirklich existieren, leiden meist unter einer Depersonalisations- oder Derealisationsstörung (DP/DR). Die Erkrankung wird von Ärzten selten richtig erkannt. Unverständnis und eine inadäquate oder falsche Behandlung sind die Folge, weiß Matthias Michal, Leiter der ersten Spezialsprechstunde für Depersonalisation und Derealisation in Deutschland.

derStandard.at: "Ich fühle mich heute wie ferngesteuert" und "Ich stehe neben mir" sind Formulierungen, die jeder kennt.  Wo ist der Übergang von einer solchen Befindlichkeit zur psychischen Erkrankung?

Michal: "Ich stehe neben mir" ist eine Redensart, die eine urmenschliche Reaktionsmöglichkeit auf Überlastungen ausdrückt. Fast alle meiner Kollegen dürften diesen Zustand kennen. Umgekehrt höre ich immer wieder von Patienten: "Mich kann niemand verstehen." Wenn man sich dauernd oder überwiegend in diesem Zustand befindet und daran leidet, spricht man von einer Erkrankung.

derStandard.at: Wie viele Menschen sind von Depersonalisation und Derealisation betroffen?

Michal: Rund 70 Prozent der Bevölkerung haben schon einmal zumindest für ein paar Minuten einen Zustand der Depersonalisation erlebt. Knapp ein Prozent befindet sich sehr oft oder fast permanent in diesem Zustand. Das entspricht etwa der Anzahl der Menschen, die an Magersucht oder Epilepsie leiden.

Die Diagnose wird aber nur bei etwa einem von hundert Betroffenen gestellt, und das oft erst nach etlichen Jahren. Die Auswertung von Krankenkassendaten zeigt, wie extrem selten das Krankheitsbild des Depersonalisations- und Derealisationssyndroms in Deutschland diagnostiziert wird, nämlich nur bei 0,007 Prozent der Bevölkerung. Es handelt sich also um eine extreme Lücke zwischen Vorkommen und diagnostischer Erfassung.

derStandard.at: Wie kommt es zu dieser Diskrepanz?

Michal: Die Situation ist widersprüchlich: Ein Psychiater oder Therapeut erhebt bei jedem Patienten einen psychischen Befund, bei dem er standardmäßig nach Symptomen der DP/DR fragen sollte. Das wird allerdings oft nicht praktiziert. Viele Psychiater und Therapeuten - darunter auch Hochschullehrer - wissen nicht einmal, dass die Diagnose der Depersonalisationsstörung überhaupt in den gängigen internationalen Klassifikationssystemem wie ICD-10 oder DSM-IV existiert. Dabei wurde dieses Syndrom bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts als eine der ersten psychischen Erkrankungen detailliert beschrieben. Dennoch werden DP und DR in Deutschland als eine extrem seltene Krankheit eingestuft, und die Vernachlässigung ist auf der ganzen Welt zu beobachten.

derStandard.at: Können Sie sich diesen "blinden Fleck" erklären?

Michal: Ich habe für mich noch keine befriedigende Antwort gefunden, gehe aber davon aus, dass es auch mit dem Krankheitsbild selbst zu tun hat: Die Patienten gehen zwar zum Arzt, wirken aber oft völlig "normal" und unauffällig. Selbst schwerste Zustände von Depersonalisation und Derealisation sind den Patienten nicht anzusehen. Manche funktionieren sogar im Leistungsbereich noch erstaunlich gut, selbst wenn sie voller Angst sind, den Verstand zu verlieren, oder sie sich ganz verloren vorkommen.

Betroffene haben oft Schwierigkeiten, über ihre Befindlichkeit zu sprechen, und können nur schwer verdeutlichen, woran und wie sehr sie leiden. Das zu erklären ist natürlich auch viel verlangt. Es gibt da diese Fallgeschichte eines 17-jährigen Patienten, der an einem Depersonalisations-/Derealisationssyndrom litt und jahrelang auf Schizophrenie behandelt wurde...

derStandard.at: Wie sind die Ärzte zu dieser Diagnose gekommen?

Es scheint, als ob diesem jungen Mann ausgerechnet seine Fähigkeit zur Verdeutlichung zum Verhängnis wurde. Gerade weil er in der Lage war, seine Situation detailliert zu schildern - "Ich habe Angst, verrückt zu werden" -, stuften ihn die Ärzte als schizophren ein.

Michal: Die Kollegen waren mit dem Phänomen der Depersonalisation und dem Krankheitsbild nicht vertraut. Sie haben deshalb das Phänomen und die Angst des Patienten, verrückt zu werden, mit einer Schizophrenie verwechselt. Ursache dafür ist ihre Unwissenheit. Bei einem Drittel der Patienten, die zu uns kommen, wurden die Symptome zu Unrecht als Schizophrenie oder Depression mit psychotischen Symptomen interpretiert.

derStandard.at: Wie können Betroffene ihre Symptome angemessen beschreiben?

Michal: Für viele sind sie nicht beschreibbar. Oft stecken dahinter Ängste, für verrückt gehalten oder nicht ernst genommen zu werden. In der Regel gelingt es ihnen aber sehr gut, wenn man sie entsprechend ermuntert.

derStandard.at: Wenn man sich selbst so entfremdet ist, fühlt man sich dann automatisch auch den Mitmenschen fremd?

Michal: Ja, Depersonalisation ist auch eine Entfremdung in Beziehungen, eine Entfremdung im sozialen Sinn. Die Patienten haben Schwierigkeiten oder, besser gesagt, Ängste, in ihren sozialen Beziehungen präsent zu sein. Sie fühlen sich oft nicht verstanden, ohne dass der andere das erkennen kann. Es ist wie ein Teufelskreis: Aus Angst, nicht verstanden oder beschämt zu werden, bin ich nicht richtig präsent, mit der Folge, dass ich nicht verstanden werde.

derStandard.at: Angeblich können Betroffene kaum noch Gefühle empfinden. Stimmt das?

Michal: Das darf man sich nicht so statisch vorstellen. Die Unfähigkeit, Gefühle zu empfinden, ist zwar ein Hauptsymptom der Depersonalisationsstörung, das bedeutet aber nicht, dass die Betroffenen keine haben. Im Gegenteil, es handelt sich oft um sehr sensible Menschen, die große Angst haben, von ihren Empfindungen mitgerissen zu werden. Über die DP/DR unterdrücken sie sie und schalten sie ab.

derStandard.at: Kann man hier von einer Abspaltung bestimmter Persönlichkeitsanteile sprechen?

Michal: Ich würde von einer Unterdrückung sprechen. Die Patienten bemerken das auch selbst während einer Behandlung: Sobald ein Gefühl hochpoppt, lichtet sich die DP/DR ein wenig. Und genau an dieser Stelle haben die Patienten die Wahl: Entweder sie unterdrücken ihre Gefühle durch die Depersonalisation und entfernen sich damit von sich selbst, oder sie lassen die Gefühle zu.

Der österreichische Psychiater Paul Schilder umschrieb deshalb die Funktion einer Depersonalisationsstörung als eine Flucht vor dem vollen Erleben der Wirklichkeit. Wobei man sich diese Flucht nicht als willkürliche Entscheidung vorstellen darf nach dem Motto "See you later, alligator - ich depersonalisier jetzt mal".

derStandard.at: Lässt sich an dieser Schnittstelle, in der der Patient eigentlich die Wahl hat, mit einer Therapie ansetzen?

Michal: Ja, genau, hier liegt der erste Schritt der Behandlung. DP/DR-Patienten sind, so wie zum Beispiel auch Schmerzpatienten, extrem von den Beschwerden eingenommen. Sie sagen: "Ständig fühle ich mich wie in einem Traum. Alles ist unwirklich." Auf einer Betroffenheitsskala von eins bis zehn geben sie immer acht, neun oder zehn an. Deshalb empfehlen wir am Anfang der Therapie, mit einem Symptomtagebuch zu beginnen. Darin wird festgehalten, wann die DP/DR am schlimmsten und wann sie weniger schlimm ist.

Zu Beginn erscheint den Betroffenen die DP/DR immer gleich stark präsent zu sein. Aber in der Regel finden Schwankungen statt, und sie bemerken: In bestimmten Situationen ist es schlimmer. So kommen wir gemeinsam auf die zugrunde liegende Ängste und Gefühle und können diese analysieren. Das ist ein erster wichtiger Schritt. Die Patienten bemerken: Das Symptom ist nicht in Beton gegossen, sondern macht Sinn. Es hat etwas mit ihrem Leben, mit ihren Befürchtungen und Wünschen zu tun. Wenn man diese Stufe erreicht hat, kann man wie sonst auch psychotherapeutisch arbeiten. Aber bis dahin zu kommen ist meistens schwierig.

derStandard.at: Wie kann dieser erste Schritt gelingen?

Michal: Wenn man sie da abholt, wo sie gerade sind: bei ihren Beschwerden. Diese werden von den Therapeuten oder Psychiatern aber oft übergangen und als Angststörung oder Depression abgetan. Oder die Behandler kommen zur einer quasi katastrophisierenden Fehleinschätzung wie der Diagnose Schizophrenie. Es kann aber auch vorkommen, dass sie allzu sehr von den Symptomen fasziniert sind und sich deshalb nur an der Oberfläche mit dem Krankheitsbild beschäftigen.

derStandard.at: Drängt sich bei den Patienten nicht irgendwann die Sinnfrage auf?

Michal: Ja, DP/DR ist ein Krankheitsbild mit philosophischem Charakter. Wenn der Bezug zu sich selbst und zur Welt so fremd geworden ist, fragt man sich: Wer bin ich überhaupt? Was will ich hier auf der Welt machen? Im Verlauf der Behandlung stellen sich alle Patienten diese Fragen. Sie werden sich ihres Lebens richtig bewusst. Kennen Sie den Film "Matrix"? Der Hauptdarsteller entscheidet sich, die rote Pille für die Realität zu nehmen, und landet zunächst einmal recht unsanft. So ähnlich geht es den DP/DR-Patienten.

derStandard.at: Wie fühlen sich die Betroffenen?

Michal: Die Verzweiflung ist sehr groß. Anfänglich leiden die Betroffenen meist unter der Angst, "verrückt zu werden", das heißt, ganz und gar die Kontrolle über ihren Verstand und ihr Verhalten und letztendlich den Kontakt zu den Mitmenschen zu verlieren. Im späteren Verlauf wird diese Angst von einem Gefühl der Verlorenheit abgelöst: ohne ein Gefühl echter Verbundenheit und zutiefst einsam ein sinnloses Leben zu führen.

Das geht oft so weit, dass viele Patienten, bis sie einen Namen für ihr befremdliches Erleben gefunden haben, glauben, als Einzige auf diesem Planeten daran zu leiden. Viele denken auch, es ist etwas in ihrem Gehirn kaputt gegangen, was sie unweigerlich auf ewig zu einem solchen Leiden verdammt. Das ist eine völlig falsche Vorstellung. Auch wenn der Zustand 20 Jahre dauern sollte, ist er veränderlich.

derStandard.at: Was kann DP/DR auslösen? Ein Trauma?

Michal: Menschen mit Traumatisierungen haben zwar oft eine starke DP/DR, aber der Umkehrschluss trifft nicht zu. Die Patienten haben in der Regel fast nie ein Trauma, zum Beispiel sexuellen Missbrauch oder schwere körperliche Misshandlungen, erlebt. Das kann zum Problem werden zwischen Patienten und Therapeuten, die auf Traumata spezialisiert sind und meinen: Irgendwo muss doch ein traumatisierendes Ereignis zu finden sein.

Im Verlauf der Behandlung ist oft eher zu bemerken, dass die Betroffenen keine innige Beziehung zu den Eltern hatten. Dass diese, besonders bei sensiblen Kindern, emotional nicht so präsent waren und nicht im ausreichenden Ausmaß emotional zur Verfügung stehen konnten. Oder dass die Eltern ihren Kindern gegenüber beschämend und demütigend waren. So haben die Kinder im Lauf der Zeit gelernt, sich von ihren eigenen Gefühlen zu distanzieren. Das ist das Hauptproblem.

derStandard.at: Gibt es auch organische Auslöser?

Michal: Durchaus. Symptome von DP/DR können im Rahmen zahlreicher physiologischer oder krankhafter Zustände auftreten, zum Beispiel bei Unterzuckerung, Schlafmangel, Schwindel, Cannabiskonsum, Schädel-Hirn-Trauma oder Epilepsie. Dabei handelt es sich aber immer um kurzfristige, vorübergehende Zustände.

derStandard.at: Gibt es eine eigene Therapieform für DP/DR? Gibt es Medikamente?

Michal: Es gibt keine Medikamente, die zur Behandlung der Depersonalisationsstörung zugelassen sind. Es gibt auch keine eigene Therapie, und die muss es auch nicht geben, weil die Depersonalisationsstörung eine "normale" seelische Erkrankung ist, wie beispielsweise eine Depression oder soziale Phobie. Es gibt aber sehr wohl spezifische psychotherapeutische Strategien und Techniken, die hilfreich sind, und andererseits Herangehensweisen, die nicht helfen oder sogar schädlich sind.

derStandard.at: Was empfehlen Sie Betroffenen?

Ich empfehle den Patienten, zur ambulanten Behandlung einen Therapeuten zu suchen, mit dem sie zurechtkommen und von dem sie sich verstanden fühlen. Das muss kein Spezialist für DP/DR sein. Ich denke, man kann von einem Therapeuten, wie übrigens von jedem Arzt, verlangen, dass er Lehrbücher liest, recherchiert und Kollegen fragt. Ebenso kann ich von einem Therapeuten verlangen, dass er auf mich eingeht und mein Krankheitsbild ernst nimmt. (Eva Tinsobin, derStandard.at, 26.9.2012)

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