Laute Ressentiments seien in Österreich schon normal, sagt die Linguistin Ruth Wodak. Mit ihr sprach Irene Brickner.

Standard: Die antisemitische Beschimpfung eines Wiener Rabbiners wurde bisher von auffallend wenigen Politikern verurteilt. Auch in der Affäre um die judenfeindlich manipulierte Karikatur auf der Homepage des FPÖ-Chefs Heinz-Christian Strache vor zwei Wochen hat sich das offizielle Österreich sehr zurückgehalten. Wie erklären Sie sich das?

Wodak: Das hängt möglicherweise mit einer Übersättigung durch das Thema Antisemitismus zusammen. Mit der Gewöhnung daran, dass - Stichwort Strache-Karikatur - die FPÖ immer wieder bewusst provoziert, dass man diese Strategie schon kennt und die Äußerungen am liebsten gar nicht aufgreifen will: so, wie es Armin Wolf im Sommergespräch richtig dargestellt hat. Nun ist es tatsächlich angebracht, sich zu überlegen, für welche Ansichten man ein Forum bietet und für welche nicht. Aber das Problem ist, dass man sich so an Antisemitismus und andere Rassismen schrittweise gewöhnen könnte. Dass der Prozess der Normalisierung voranschreitet.

Standard: Aber ist es nicht wirklich so, dass dieses "Spiel" der FPÖ mit Antisemitismus und Rassismus nur der FPÖ nützt?

Wodak: Durchaus - aber das hängt auch damit zusammen, dass die anderen Parteien und Gruppierungen nicht vehement und explizit dagegen Stellung beziehen.

Standard: Sie meinen, dass mehr Gegenwehr den Nutzen des "Spiels" für Strache und andere Rechte minimieren könnte?

Wodak: Ich denke schon. Wenn es etwa in Berlin nach der jüngsten, handgreiflichen Attacke auf einen Rabbiner zu spontanen Solidaritätsaktionen wie einen Kippa-Flashmob kam, bei dem alle Demonstranten die Kopfbedeckung männlicher Juden trugen, so war das schon ein wichtiges Signal der Zivilgesellschaft. Ebenso in Frankreich, wo die Antirassismusgruppe SOS rassisme nach rassistischen und antisemitischen Angriffen regelmäßig breite Aktionen initiiert. Warum von Zivilgesellschaft und anderen Partien in Österreich jetzt kein breiter Protest kommt - übergreifend, über die Juden hinausgehend -, verstehe ich nicht. Der Nutzen für Strache würde durch Gegenwehr zwar nicht abgestellt, aber die Normalisierung seiner Politik würde verhindert.

Standard: Vor dieser Normalisierung, also der zunehmenden Gewöhnung an rassistische, antisemitische und vorurteilsbeladene Ansichten, warnen Kritiker seit Jahren. Wie weit ist der Prozess in Österreich inzwischen gediehen?

Wodak: Ziemlich. Das jetzige Nicht-Reagieren ist dafür ein Symptom, denn wer schweigt, stimmt zu. Zwar ist die Lage in Österreich harmlos, wenn man sie etwa mit jener in Ungarn vergleicht. Dort weigern sich laut Augenzeugen Taxifahrer inzwischen bereits, jüdische Fahrgäste mitzunehmen. Aber im Vergleich zu - sagen wir - Schweden, Dänemark und Holland ist die Situation in Österreich schrecklich.

Standard: Stichwort Ungarn und Europa: Meinen Sie, dass die Gefahr einer Verbreitung des dortigen, offenen Antisemitismus auf andere Länder besteht?

Wodak: Das wage ich nicht zu prophezeien. Es erstaunt mich jedoch immer mehr, dass die EU angesichts der expliziten Antisemitismen und der Anti-Roma-Politik in Ungarn nicht stärker eingreift. Was in Ungarn geschieht, verstößt gegen sämtliche europäische Antidiskriminierungsgesetze und gegen die europäischen Werte, die sonst so gern betont werden.

Standard: Die EU ist seit längerem mit Schuldenproblemen und der Eurorettung beschäftigt. Gleichzeitig finden - siehe Strache-Karikatur - Bilder ausbeuterischer Juden als Symbol des Kapitalismus Verbreitung. Rückt aufgrund der Wirtschaftskrise der Antisemitismus unter den verschiedenen Rassismen wieder in den Vordergrund?

Wodak: Ja, aktuelle Studien belegen das eindeutig. Nach dem Beginn der Banken- und Wirtschaftskrise sind rasch wieder Weltverschwörungsstereotype in Verbindung mit jüdischen Bankern und Kapitalismus aufgetaucht: auch in den USA, wo etwa der konservative Nachrichtensender Fox-News massive antisemitische Attacken gegen den Investor George Soros geritten hat. (Irene Brickner, DER STANDARD, 5.9.2012)