Wien - Natürlich geht alles zu Ende. Nur noch nicht jetzt. Um deshalb ein ungutes Gefühl zu haben, muss man weder besonders katholisch, noch Anhänger irgendeiner in den Wäldern Ohios sektiererisch betriebenen Untergangskirche und deren Offenbarungen sein. Von wegen, die Siegel sind zerbrochen und die Zeichen erscheinen am Firmament: Den Weltuntergang organisieren wir Menschen uns lieber selbst!
Deshalb lässt Bob Dylan ein Narrenschiff namens Titanic im Titelsong seines neuen Albums "Tempest" fröhlich-fatalistisch, von Menschen gelenkt, im Walzertakt Richtung Untergang schaukeln. Irgendwann während 45 von keinerlei Refrains verstellten Strophen kommt der Eisberg. Dylan krächzt genüsslich, was dann im Todeskampf so alles passiert.
Alles geht zu Ende. Das Bordorchester hält sich krampfhaft an den Instrumenten fest, die Scheinheiligen an der Bibel, die Verliebten an den Geliebten; ein Gottesmann fällt vom Glauben ab. Nur dem Erzähler scheint der Untergang reichlich egal zu sein. Aber vielleicht befindet er sich gar nicht an Bord, sondern sitzt nur im Kino. Schließlich huscht ein gewisser "Leo" im Lied auch durchs Bild. Am Ende der Moritat heißt es lapidar: "Die Dinge haben ihren Lauf genommen."
Und die Moral von der Geschicht'? Bob Dylan ist mit 71 zu alt, um sich für seine Nachwelt noch mit Sinnfragen zu beschäftigen. Denken kann sein an Anspielungen und Metaphern und prächtigen, überlebensgroßen Bildern geschultes Publikum hoffentlich selber.
Bob Dylan erzählt Geschichten. Geburt, Schule, Arbeit, Tod. Die Fluten, die über die Titanic hereinstürzen, sie sind keine Bilderfluten, hervorgerufen von einem richtenden Gott. Bob Dylan singt über Wasser. Vor dem Feuer kann man davonlaufen, gegen Wasser hat man keine Chance. Wenn es am Ende eines Lebens eine kleine, eine bescheidene oder wenigstens irgendeine Weisheit geben sollte, dann diese: Über kurz oder lang wird man im Wasser untergehen. Punkt. Aus.
Sturm zieht auf
Im Vorfeld der Veröffentlichung von "Tempest", dieses nach 50-jähriger Schallplattenkarriere 35. Albums, hieß es, Dylan wolle nach diesbezüglich etwas durchwirkten Vorgängeralben wie "Slow Train Coming", "Saved" oder "Shots Of Love", allesamt vor gut drei Jahrzehnten in seiner durchwegs als wirr empfundenen "christlichen Phase" entstanden, wieder einmal eine religiös geprägte Arbeit vorlegen. Leider aber haben ihm dazu der lange Atem, die Themen, schlichtweg das Interesse gefehlt.
Man kann es auch anders sagen: Inzwischen ist Bob Dylan so sehr in archaischen Bildwelten aufgegangen, die er zwischen den Bibeldeckeln, in alten Folksongs aus den amerikanischen Weiten, in der Weltliteratur und im Kino findet, dass das Predigen unmöglich geworden ist. Die Kurzfassung von Himmel und Hölle lautet: Leben. Das bin ich, sagt er. Das seid ihr, meint er. Und jetzt gehet hin und macht daraus, was ihr wollt.
Bob Dylan befindet sich seit seinem letzten großen, dunklen und auch das Ende verhandelnden Album "Time Out Of Mind" von 1997 wieder in Hochform. Vergessen und vergeben das im Schatten von 9/11 etwas arg deplatzierte Rentnermusikalbum "Modern Times" oder die kaum erinnerlich gebliebenen Liebeslieder von "Together Through Life" von 2009, dem Jahr, in dem Dylan auch mit der Wahnsinnstat "Christmas In The Heart" über die Welt kam.
"Roll On John"
Die mit seiner Tourband in nur wenigen Tagen im Studio eingespielten zehn Songs von "Tempest" sind Dylans stärkstes Material seit langer Zeit. Und Dylan ist auch bereit, den quälenden Altmännerblues der letzten Jahre ein wenig zu drosseln. Wobei in diesem Zusammenhang "Narrow Way" und vor allem die von Muddy Waters bekannte Mannish-Boy-Paraphrase "Early Roman Kings" gehörig nerven.
Sehr schön allerdings die auf traditionellen Melodien fußenden Folksongs über verlorene Lieben wie "Scarlet Town" oder "Tin Angel" - oder die John-Lennon-Hommage "Roll On John" sowie der im forschen Western-Swing-Tempo rollende Güterzug in "Duquesne Whistle". Hier kommt auch Dylans von lustigen Zigaretten und endlosen Tourneen zerschossene Stimme besonders gut zur Krächzung.
Am Ende könnte man einen Satz von Iain Levison aus "Hoffnung ist Gift" schreiben: "Ich bin jetzt lange genug hier, um die Dinge halbwegs einschätzen zu können. Was wirklich Sinn hat und was nicht. Nichts hat einen Sinn." Bob Dylan lacht heiser. Das Gelächter geht in Husten über. Die Tür des Tourbusses schließt sich. Er muss weiter. Andere Menschen in anderen Städten wollen auch, dass ihnen nicht gepredigt, sondern etwas erzählt wird, das nicht gut ausgeht.
Auf dem Cover von "Tempest" sieht man übrigens die "Moldau"-Statue als Teil des Pallas-Athene-Denkmals vor dem Wiener Parlament. Warum, weiß keiner. Vielleicht deshalb: Weil es sie gibt. (Christian Schachinger, DER STANDARD, 11.9.2012)