
Barbara Blaha.
Wir stecken in der größten Wirtschaftskrise der Geschichte. Was geschieht? Aktive Arbeitsmarktpolitik? Banken- oder Vermögensbesteuerung? Bildungsreform? Fehlanzeige. Würde ja die Koalition belasten. Nicht so die Wehrpflicht. Die ist zwar auch nicht unwichtig, aber den innerparteilichen Einflussgruppen offenbar egal genug - zumal sie auch davon ablenkt, dass man sich eben eines lästigen Untersuchungsausschusses entledigt. Und so sehen wir einer Abstimmung über die Wehrpflicht entgegen, die beides ist: Lehrstück über den Missbrauch direktdemokratischer Mitbestimmungsmöglichkeiten und Sittenbild einer ausgebrannten und ideenlosen politischen Klasse.
Die ÖVP war jahrzehntelang eine Gegnerin der Neutralität, Anhängerin eines Nato-Beitritts und für ein Berufsheer. Diese Ansicht musste man nicht teilen - aber sie war konsistent. Mittlerweile hat die Volkspartei ihren Standpunkt ins Gegenteil verkehrt. Und nichts macht mehr Sinn. Katastrophenschutz und Zivildienst sollen die Argumente für die Wehrpflicht sein?
Die ÖVP weiß, dass der Katastrophenschutz wesentlich effizienter und kostengünstiger zu organisieren wäre. Teures Kriegsgerät ist dafür überflüssig. Das Bundesheer brauchen wir auch nicht, damit sich ihm ausreichend Leute verweigern. Die plötzlich entflammte Liebe der ÖVP zum Zivildienst ist verteidigungspolitisch kurios und sozialpolitisch eine gefährliche Drohung: Wir wollen auch weiterhin nichts ins Sozialsystem investieren, statt auf fair bezahlte Fachkräfte setzen wir lieber auf zwangsverpflichtete 18-Jährige.
Aber auch die Sozialdemokratie hat wie so oft im Grunde gar keinen Plan. Wie auch? Es gibt keinen Beschluss für ein Berufsheer. Traditionell ist die SPÖ für die Wehrpflicht. Faymann und Darabos brüskieren mit ihrer Kehrtwende zuallererst die eigene Partei. An lästigen Details soll es da offenkundig auch nicht mehr scheitern. Wie Darabos noch 2010 vorgerechnet hat, käme ein Berufsheer doppelt so teuer wie das gegenwärtige Modell. Zum offensichtlichen Mehraufwand für Personal, Rekrutierung und Ausrüstung kämen aber dann auch noch beträchtliche versteckte Kosten: Was nämlich tun mit jenen, die spätestens mit Anfang 40 aus dem aktiven Militärdienst ausscheiden müssten? In Großbritannien ist jeder vierte Obdachlose Veteran der Streitkräfte. Zehn Prozent der in den USA einsitzenden Strafgefangenen sind ehemalige Berufssoldaten. Und da reden wir noch nicht von den Therapiekosten für diejenigen, die mit Schäden an Leib und Seele aus Kriegseinsätzen zurückkehren.
Ignoriert wird auch die demokratiepolitische Dimension des Problems: Wie will man sicherstellen, dass die Armee in der Mitte der Gesellschaft verankert bleibt und nicht zum Staat im Staat mutiert? Unsere eigene Geschichte birgt hier katastrophale Erfahrungen. Wer die nicht gelten lassen will, ist herzlich eingeladen, über die eigenen Grenzen zu schauen. Soeben ist ein Buch von Matt Kennard erschienen, das eindrücklich die Probleme mit Kriminalität und Rechtsradikalismus innerhalb des US-Militärs beschreibt. Nicht etwa, weil die Armee der Spiegel der Gesellschaft wäre, sondern weil die Streitkräfte gezwungen sind, gezielt in Gefängnissen, im Milieu der Straßengangs und der rechtsradikalen Bürgermilizen zu werben. Wer sich wohl bei uns freiwillig melden wird, wenn nicht die Hoffnungslosen und der rechte Rand?
Probleme und Unwägbarkeiten gibt es also zuhauf. Der Kanzler ignoriert sie großzügig und argumentiert im Sommergespräch des ORF die Abschaffung der Wehrpflicht mit den Zuständen beim Grundwehrdienst. Die politisch Verantwortlichen begründen also die Notwendigkeit eines Berufsheeres ausgerechnet damit, dass sie es verabsäumt haben, den Grundwehrdienst einigermaßen sinnvoll zu gestalten.
Oder geht es darum am Ende gar nicht? Zum Vorsitzenden des Komitees für ein Ende der Wehrpflicht hat Faymann Hannes Androsch ernannt, und immerhin muss man dem Industriellen zugutehalten, dass er nicht lang herumredet: Ein Berufsheer müsse her, erklärt Androsch gegenüber der Zeitung Österreich, um "im europäischen Verbund in Zusammenarbeit mit der Nato einsatzbereit zu sein, die Rohstoff- und Energiequellen zu verteidigen, die Transportwege, Seewege und Pipelines."
Der oberste Sprecher der Berufsheerbefürworter gibt also gar nicht erst vor, es ginge ihm um Verteidigung. Er redet ganz ungeniert der aggressiven Wahrnehmung wirtschaftlicher Interessen das Wort und erhebt sie zur sicherheitspolitischen Doktrin der Sozialdemokratie. Dass er dann noch allen Ernstes erklärt, ein Berufsheer sei auch aufgrund des " Flüchtlingsproblems" notwendig, verstärkt nur den buchstäblich verheerenden Eindruck.
Seriöse Wehrpolitik braucht neben einer realistischen Gefahrenabschätzung auch ein außenpolitisches Konzept. Tunlichst eines, das über Raubkriege hinausgeht. Es gehört seit Jahren zum guten Ton, die Neutralität als dümmliche Exzentrik abzutun. Sinnigerweise speziell unter Leuten, die maßgeblichen Anteil daran haben, dass Österreich auf der internationalen Bühne schon lange niemand mehr ernst nimmt.
Aber wer ungeachtet der Meinungskonjunktur Krieg als Mittel der Politik ablehnt und Gewalt nur zu Verteidigungszwecken für legitim hält, ist keineswegs weltfremd. Man verweigert sich auch nicht seinen europäischen Verpflichtungen. Wohl aber weist man die Logik der Kanonenbootpolitik des 19. Jahrhunderts zurück, derzufolge Außen- und Machtpolitik ident sind. Sich an keinen Kriegen zu beteiligen bedeutet nicht zwangsläufig, Konflikte zu ignorieren. Aktive Neutralitätspolitik setzt nur an einem anderen Punkt an: Jede Auseinandersetzung verlangt in irgendeiner Phase Verhandlungen, je früher, desto besser. Dann braucht es ehrliche Vermittler und einen neutralen Boden, auf dem man sich treffen kann.
Keine Frage: Das Bundesheer in seiner derzeitigen Form ist ein unnötiges Ärgernis. Militär und Wehrpflicht schreien nach einem Radikalumbau. Aber nicht nach einem, der alles nur noch schlimmer macht. In Abwägung dessen fällt die Entscheidung für die Wehrpflicht nicht schwer. (Barbara Blaha, DER STANDARD, 12.9.2012)