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Harlem Desir.

Foto: REUTERS/Regis Duvignau

"Totalitär", "diktatorisch": Solche Nettigkeiten musste die scheidende Parteichefin Martine Aubry am Mittwoch im Radio hören. Erboste Mitglieder des Parti Socialiste (PS) fragten, warum im Oktober noch ein Kongress nötig sei, wenn der Name des Parteivorsitzenden schon im Voraus feststehe.

Aubry hatte am Mittwoch bekanntgegeben, ihr bisheriger Vize Harlem Désir (52) werde Spitzenkandidat für den Posten des Parteichefs. Eineinhalb Monate vor dem Parteikongress scheint die Wahl damit bereits besiegelt - und dies, obwohl Aubry noch nicht einmal offiziell angekündigt hat, nicht mehr anzutreten.

Nach den Statuten der Partei wird Parteichef, dessen "Motion" (politische Vorschläge) am meisten Stimmen erzielt. In der Geschichte des PS läuft dies darauf hinaus, dass der amtierende Parteichef seinen Nachfolger bestimmt. So hatte auch Lionel Jospin 1997 François Hollande zum Nachfolger bestimmt. Nicht erst seit jener Wahl gilt der Parteivorsitz als Sprungbrett für eine Präsidentschaftskandidatur.

Die Kritik der Basis an der Nominierung rührt nicht nur daher, dass es zu keiner Wahl im eigentlichen Sinn kommt. Das Wochenblatt Canard Enchaîné enthüllt, dass es Hollande gewesen sei, der Désir "inthronisiert" habe. Aubry habe diese Entscheidung nur abnicken können.

Im Hintergrund geht es auch um die Europa-Frage, die den PS seit Jahren entzweit. Guillaume Bachelay (47), der designierte Vize Désirs, hatte 2005 gegen die EU-Verfassung gestimmt. In der Zwischenzeit ist er ins Lager der Befürworter gewechselt. Seine Nominierung ist ein geschickter Schachzug der "Pro-Europäer" um Hollande: Er neutralisiert die EU-Skeptiker um Parteisprecher Benoît Hamon. Dies ist deshalb von Bedeutung, weil Frankreich noch den EU-Fiskalpakt ratifizieren muss. Die Staats- und Parteiführung um Hollande und Aubry ist auf alle Stimmen ihres Lagers angewiesen. (Stefan Brändle aus Paris /DER STANDARD, 13.9.2012)