Jewgenija Timoschenko wirbt in Österreich um Unterstützung für ihre inhaftierte Mutter.

Foto: Standard/Newald

STANDARD: Vor eineinhalb Jahren war Ihre Mutter noch überzeugt, dass sie bei der Wahl am 28. Oktober antreten wird. Wie hat sie als langjährige Insiderin der ukrainischen Politik ihre eigene Situation derartig falsch einschätzen können?

Timoschenko: Das war keine Fehleinschätzung. Weder sie noch die andere Seite hat erwartet, dass das alles passieren wird. Wir hätten nicht gedacht, dass bei Janukowitsch und seinen Leuten die Angst und das unvernünftige Verlangen nach Rache die politischen Kosten, die durch die Verhaftung und die Verfolgung meiner Mutter entstehen, übersteigen. Nach der Verhaftung war das ein Schock.

Es ist interessant, dass es genau dann zur Verhaftung kam, als Premierminister Mykola Asarow seine Zeugenaussage machte. Er hatte eigentlich gar nichts mit dem Fall und den Verhandlungen 2009 zu tun. Er konnte nur seine Meinung äußern, und die war als Vize-Obmann der Partei der Regionen sehr einseitig. Als meine Mutter Asarow mit unbequemen Fragen herausforderte, hat es die spontane Order gegeben, die weder die Staatsanwaltschaft noch der Richter erwarteten. Noch zwei Tage zuvor sagte der stellvertretende Generalstaatsanwalt der Ukraine, Renat Kusmin, dass es keinen Arrest geben werde.

Es gab in der Vergangenheit auch keinen Fall, in dem jemand wegen "Missachtung des Gerichts" ins Gefängnis kam. Das war der Weg, meine Mutter auszuschalten. Sie ist wirklich isoliert. Sie hat keinen Zugang zu Internet und Telefon, obwohl jeder Verurteilte ein Recht darauf hat. Natürlich wurde ihre Stimme in ihrer aktiven Rolle leiser, aber so, wie sie vorhergesagt hat, ist ihre Stimme aus dem Gefängnis weitreichender und eine größere Gefahr für das Regime. Wir haben große Proteste und politischen Druck auf Janukowitsch gesehen.

Es gibt zwar noch kein Ergebnis, aber das zeigt nur wieder, dass die Leute an der Macht keinen politischen Hausverstand haben. Sie kümmern sich nicht um ihr Image in der internationalen Gemeinschaft. Ihre Angst vor dem Machtverlust, um sich selbst zu bereichern, führt zu absurden und unlogischen Schritten.

STANDARD: Wäre es rückblickend nicht besser gewesen, das Land zu verlassen?

Timoschenko: Wenn meine Mutter nicht meine Mutter wäre, dann hätte sie wohl das Land verlassen. Sie eine außergewöhnliche Frau und Politikerin. Ihr Ziel ist es, das Regime auszumerzen, und davon wird sie nicht abweichen - ob sie nun im Gefängnis oder ihr Leben in Gefahr ist. Sie hat bereits gewusst, dass es immer mehr Anschuldigungen geben wird. In den letzten Monaten vor ihrer Verhaftung hat sie immer einen gepackten Rucksack bereitgestellt gehabt. Sie war mental darauf vorbereitet, ins Gefängnis zu gehen. Allerdings war sie nicht auf eine derartig massive Attacke vorbereitet.

Natürlich hat sie auch darüber nachgedacht, das Land zu verlassen. Aber genauso, wie sie nach ihrer ersten Verhaftung gegen Leonid Kutschma (Präsident von 1994 bis 2005, Anm.) gekämpft hat, hat sie sich entschieden, zu bleiben und ihr Land nicht zu verraten. Für uns als Familie wäre es natürlich besser gewesen, sie hätte die Ukraine verlassen.

STANDARD: Es ist erstaunlich, wie ähnlich Sie Ihrer Mutter in letzter Zeit sehen.

Timoschenko: Danke. Ich hoffe, dass das so ist.

STANDARD: Wollen Sie vielleicht in die Fußstapfen ihrer Mutter treten?

Timoschenko: Meine Rolle und meine Aktivitäten sind nur auf die Verteidigung meiner Mutter ausgerichtet - sie aus dem Gefängnis zu befreien, ihr Leben zu retten und die demokratischen Kräfte in der Ukraine zu unterstützen. Ihre Rolle in der Politik ist legendär. Ich werde ihr so viel wie möglich helfen und in ihrer Nähe sein, auch wenn sie wieder frei ist, aber ich möchte keine Politikerin werden.

STANDARD: Aber es ist offensichtlich, dass der ukrainischen Opposition eine starke Führungspersönlichkeit fehlt. Wer könnte das Vakuum füllen?

Timoschenko: Es gibt keine eindeutige Antwort. Der Erfolg, die Opposition zu einen, gebührt in erster Linie meiner Mutter und den Führern der anderen fünf kleineren Oppositionsparteien. Sie haben ihre Parteimitgliedschaften für das Ziel einer geeinten Opposition geopfert, um gemeinsam gegen das Regime zu kämpfen. In der vereinigten Opposition gibt es viele starke Politiker und sie halten meine Mutter für eine der Anführer. Deshalb haben sie sie auch an die erste Stelle auf der Parteiliste gesetzt. Wir wollen unsere Anführerin zurück. Das ist nur ein vorübergehender Rückschlag.

STANDARD: Sie haben bereits viele westliche Politiker getroffen, um um Unterstützung für Ihre Mutter zu werben. Welche konkrete Hilfe wurde Ihnen angeboten?

Timoschenko: Ihre Unterstützung basiert auf dem Vertrauen gegenüber meiner Mutter und den übrigen Oppositionskollegen sowie ihren Errungenschaften und Aktivitäten in der Vergangenheit. Sie sehen meine Mutter als Gleichgestellte und respektieren sie. Ich bin sehr dankbar für ihre starke Position in diesem Fall. Es hat nur leider lange gedauert, bis die Politiker aus den demokratischen Ländern verstanden haben, dass die Versprechen Janukowitschs nur leere sind und er ihr Vertrauen nur ausnützt.

Die EU und andere Politiker müssen jetzt eine noch stärkere Position einnehmen und tougher sein. Es ist gefährlich, Kompromisse einzugehen und mit einem Diktator zu verhandeln. Abgeordnete müssen ihre Institutionen antreiben, Ermittlungen einzuleiten und restriktive Maßnahmen gegenüber denen zu ergreifen, die in Korruption verstrickt sind und ihre Macht vergrößern und missbrauchen.

STANDARD: Aber Janukowitsch hat die Justiz fest in der Hand. Wie soll das funktionieren?

Timoschenko: Die Ermittlungen müssen ja auch in den Ländern eingeleitet werden, über die korrupten Geschäfte abgewickelt wurden - Österreich, Großbritannien, Lettland, Zypern und USA. Diese Länder müssen eine sehr starke Position einnehmen. Die finanziellen Ressourcen, die aus der Ukraine geschleust werden, können wir alle möglichen Aktivitäten genutzt werden, auch solche, die die Demokratie in diesen Ländern untergraben können. Das ist eine gefährliche Entwicklung.

Ukrainische Geschäftsleute und Industrielle, die mit der Europäischen Union Geschäfte machen, haben bereits gegenüber dem Präsidenten zum Ausdruck gebracht, das das schädlich ist. Ihre Lobby war früher stark. Interne Stimmen werden aber nicht mehr gehört. Externe Stimmen schon noch.

Das kann zu individuellen Sanktionen führen wie etwa Reiseverboten oder der Beschlagnahme von Eigentum. Das ist das Einzige, womit man ihnen drohen kann. Im Falle eines Machtwechsel ist ihre einzige Fluchtmöglichkeit in diese Länder, über die sie ihre Betrügereien kanalisieren und ihre Geldwäsche betreiben. Erst wenn dieser Weg versperrt ist, werden sie den Druck spüren.

STANDARD: Haben Sie auch in Russland um Unterstützung geworben?

Timoschenko: Nein, noch nicht.

STANDARD: Präsident Putin hat immerhin die Position ihrer Mutter unterstützt und gesagt, dass mit dem Gasabkommen alles rechtens ist. Er hat auch medizinische Hilfe angeboten.

Timoschenko: Es wäre eine große Ehre für mich, Präsident Putin zu treffen. Es gibt viele Nachrichten, die ich ihm gerne von meiner Mutter übergeben würde. Er wurde in die Situation gebracht, in der er plötzlich Zeuge in einem Strafverfahren ist. Er und meine Mutter waren Verhandlungspartner, die sehr erfolgreich zu einem Abkommen gekommen sind. Die Gaskrise wurde beendet und die Ukraine erhielt 20 Prozent Diskont für technisches Gas.

Meine Mutter hat das Memorandum unterzeichnet, um den politischen Aspekt in den jährlichen Verhandlungen loszuwerden und mehr Transparenz und Marktwirtschaft in den Gashandel zu bringen. Viele Leute haben das verstanden, und Putin ist wahrscheinlich die Person, die es am meisten versteht. Putin hat sie öffentlich unterstützt, und er ist wahrscheinlich einer der wenigen Menschen auf der Welt, die helfen können, diese Krise zu lösen und die politischen Gefangenen zu befreien. Wir hoffen, dass er helfen wird.

STANDARD: Bevor Ihre Mutter Politikerin wurde, war sie wie Sie Unternehmerin. Ihre nicht unumstrittenen Geschäfte haben ihr den Beinamen "Gasprinzessin" eingebracht.

Timoschenko: Das Unternehmen meiner Mutter (United Energy Systems of Ukraine, Anm.) war sehr erfolgreich. Meine Eltern haben es in ungefähr fünf Jahren aufgebaut. Es gab damals viele Unternehmen auf dem gleichen Level in jeder Region. Ihr Unternehmen wurde deswegen bekannt, weil sie nicht nach den Regeln des Kutschma-Regimes arbeitete und sich nicht korrumpieren ließ. Sie hat daher die Wirtschaft verlassen und ist in die Politik gegangen. Ihr Ziel war es, gegen die postsowjetischen Tendenzen aufzutreten. Als Ökonomin in einer Fabrik hat sie gesehen, dass das kommunistische System nicht funktionierte. 

Meine Mutter war nicht alleine. Insgesamt waren es acht Leute im Parlament, die 1999 beschlossen, Kutschma nicht zu unterstützen. Das war die Bruchstelle zwischen ihr und Kutschma und dem damaligen Chef der Finanzbehörden, Asarow (heutiger Premierminister, Anm.). Kutschma gab den Auftrag, eine Steuerprüfung durchzuführen und das Unternehmen zu zerstören. Weil meine Mutter nicht nach ihren Regeln spielen wollte, wurden sie und ihr Werk zerstört. Familienmitglieder und Kollegen wurden ins Gefängnis gesteckt.

Meine Mutter war nie eine Oligarchin. Gewöhnlich sind Oligarchen regimenah, sie sind in monopolisierten Industrien tätig und besitzen Fernsehkanäle oder andere Medien. Sie hatte damit nichts zu tun. Ihr Image wurde von den kontrollierten Medien kreiert, nur um den Ukrainern zu zeigen, dass alle Politiker gleich sind. Jetzt, da sich die Ukraine zu einer Diktatur entwickelt und die Leute ihre Situation mit der vor drei Jahren vergleichen, erkennen sie, dass meine Mutter und ihre Kollegen die einzige Lösung für die Ukraine waren.

STANDARD: Als Unternehmerin ist es eine Ihrer Tätigkeiten, ausländische Investoren bei ihren Geschäften in der Ukraine zu unterstützen. Haben Sie dabei schon einmal Probleme mit den Behörden gehabt oder sind mit Korruption konfrontiert worden?

Timoschenko: Ich hatte vor ein paar Jahren ein Unternehmen, noch bevor Janukowitsch an die Macht kam. Das war ein Entwicklungsunternehmen, das auch mit österreichischen und internationalen Firmen zusammenarbeitete.

Natürlich haben wir einen Rückschlag gespürt. 2007 waren blühende Zeiten für internationale Investoren. Es gab viele Projekte und Möglichkeiten. Wir haben internationalen Investoren durch die Adaptierungsphase geholfen, ihnen Strukturen, rechtlichen Rahmen erklärt und die Kommuniktion mit den lokalen Menschen übernommen. Jetzt ist es total anders.

Die Korruption hat sich in den vergangenen drei Jahren verdoppelt. Die Gerichte werden benutzt, um Investoren zu bestrafen und Eigentum zu entwenden. Die Leute in der Umgegebung des Präsidenten haben jeder einen eigenen Sektor zugeteilt bekommen. Auch Sektoren, die für österreichische Investoren wichtig waren, wie Banken und Versicherung, Bauwesen, Infrastruktur, Verkehr, Landwirtschaft und alternative Energien. In jedem Sektor sitzt nun eine Person, um Geld einzusammeln und als Gatekeeper zu fungieren. Sie wählen die aus, die bessere Konditionen bieten.

Das hat zur Vertreibung von internationalen Investoren geführt. Die Investoren, die schon länger als fünf Jahre in der Ukraine sind, bleiben zwar, aber es kommen keine neuen nach. (Verena Diethelm, DER STANDARD, Langfassung, 14.9.2012)