
Robert Menasse verteidigt seine Kritik an Angela Merkel: "Europa produziert Krisen, und die stören das deutsche Glück."
STANDARD: Haben Sie ein Problem mit Deutschland? Betreiben Sie in Ihrem Buch Merkel-Bashing?
Menasse: Ich habe kein Problem mit Deutschland. Im Gegenteil. Wäre Österreich nicht der EU beigetreten, dann wäre ich aus antifaschistischen Gründen für einen Anschluss Österreichs an Deutschland. Ich habe allerdings kritische Einwände gegen die Europapolitik von Frau Merkel.
STANDARD: Aber Sie machen das schon sehr persönlich. Sie begründen, durch ihr Aufwachsen in der DDR könne Merkel "nie eine wirkliche Europapolitikerin" werden.
Menasse: Ich habe versucht zu zeigen, welche Blockaden Angela Merkels Politik in Europa produziert. Ich habe versucht zu verstehen, warum sie das macht. Sie gibt der immer stärker werdenden nationalistischen Stimmung in Deutschland nach. Das ist keine gute Voraussetzung für eine vernünftige Europapolitik.
Der andere Grund für ihr Verhalten im Europäischen Rat ist ihre DDR-Sozialisation. Für sie war die deutsche Wiedervereinigung natürlich das große Befreiungserlebnis, die nationale Wiedergeburt Deutschlands. Die nachnationale Entwicklung in Europa und der europäische Einigungsprozess scheinen ihr daher unbegreiflich, ein Störfaktor: Europa produziert Krisen und die stören das deutsche Glück. Aber sie begreift viel zu langsam, dass durch eben ihre nationale Verteidigungspolitik die Krise erst so groß werden konnte.
STANDARD: Warum kommt Frankreich fast gar nicht vor?
Menasse: Frankreich hat in Hinblick auf die Krise weniger Obstruktion gemacht. Aber ich habe auch diese merkwürdige, in der Verfassung nicht vorgesehene Institution "Merkozy" kritisiert: Dass zwei Staatschefs in privaten Treffen Entscheidungen für 25 andere Staaten treffen, ohne dass sie dort gewählt worden sind. Das ist doch grotesk.
STANDARD: Aber ist es nicht so, dass jemand in einem Klub der 27 die Richtung angeben muss?
Menasse: Das kann man so sehen. Wenn man einen Führer braucht. Ich brauche keinen. Die Vorstellung, dass man eine Führungsmacht braucht, widerspricht der Idee der europäischen Gemeinschaft.
STANDARD: Von wem im Rat sollen dann Impulse im Kreise der Staats- und Regierungschefs ausgehen? Von Österreichs Kanzler Werner Faymann?
Menasse: Warum soll Faymann im Europäischen Rat keine Impulse geben? Zum Beispiel in Hinblick auf soziale Gerechtigkeit in Europa. Im Rat sitzen 27 Staats- und Regierungschefs. Jeder kann und soll darin eine gleichwertige Stimme haben. Solange es den Rat gibt. Das eigentliche Problem ist allerdings, dass es den Rat gibt. Denn er wird immer mehr zur Wagenburg der Verteidigung nationaler Interessen - also einer Fiktion.
STANDARD: Bleiben wir bei der gegenwärtigen Konstruktion: Der Philosoph Jürgen Habermas konstatiert einen "Mangel an leader ship".
Menasse: Nicht der Mangel an leadership, sondern der Mangel an europäischem Bewusstsein im Rat, also diese gegenwärtige Konstruktion, ist das Problem. Die Krise ist der Beweis. Parlament und Kommission sind die supranationalen, dem Anspruch nach wirklich europäischen Institutionen. Dazwischen hineingeschoben ist der Rat, wo Staatschefs aus Panik vor ihrer jeweiligen nationalen Wählerschaft alle vernünftigen gesamteuropäischen Lösungen torpedieren. Dieser Widerspruch zwischen nachnationaler Entwicklung und Verteidigung nationaler Interessen produziert diese Krise: So ist jedes Problem gemeinschaftlich nicht lösbar, zugleich ist die Verflechtung schon so weit fortgeschritten, dass es national auch nicht mehr lösbar ist.
STANDARD: Sie schreiben, der Rat muss weg! Ist das realistisch?
Menasse: Nein. Natürlich nicht. Aber der Mauerfall war am 9. November 1989 auch nicht realistisch.
STANDARD: Sie lassen die Leserinnen und Leser in Ihrem Buch an Ihrem Lernprozess teilnehmen: Als Sie nach Brüssel kamen, haben Sie etwa den Rat als halbwegs demokratisch legitimierte Institution betrachtet. Was war die größte Überraschung?
Menasse: Ich hatte Vorurteile, wenn auch keine dramatischen. Was mich bestürzt hat als politisch interessierter Zeitgenosse, war, dass ich vieles nicht gewusst und verstanden habe, obwohl ich doch immer brav die Zeitungen gelesen habe. Erst als ich begonnen habe, mich in Brüssel genauer damit zu beschäftigen, habe ich das System besser verstanden. Ich bin nicht vom gnadenlosen EU-Kritiker zum sogenannten glühenden Europäer geworden. Ich bin von einem skeptischen zu einem solidarisch kritischen Europäer geworden. Ich weiß jetzt genauer, wo man die Kritik ansetzen muss.
STANDARD: Bauen wir an Ihrer utopischen Konstruktion weiter: Sie schreiben, die Kommissare sollten vom Parlament gewählt werden. Warum sind Sie nicht für eine Direktwahl?
Menasse: Kommissare sind im Grunde Minister. Wir wählen nirgends Minister direkt. Und wo wollen Sie europäische Minister direkt wählen? Auf europäischen Listen? Wer 27 Kandidaten für ein Ministeramt zur Auswahl hat, wen wird er wählen? Oder auf nationalen Listen? Wer wird wohl dann gewählt? Der Europapolitiker oder der, der verspricht, die nationalen Interessen zu verteidigen? Das ist doch alles unsinnig. Wir wählen ein Parlament und das Parlament soll die Regierung wählen. Aber wie auch immer: Die Frage der Verfassung und der demokratischen Legitimation der Europapolitik ist die Diskussion der Zukunft. Noch diskutieren wir leider nur über Fiktionen, Phantome und Scheinprobleme.
STANDARD: Welche meinen Sie konkret?
Menasse: Zum Beispiel das Phantom "Brüsseler Bürokratie-Moloch". Die EU hat weniger Beamte als die Stadt Wien. Oder diese irre Fiktion von der "Überregulierung" durch "Brüssel". Dieselben Menschen, die zum Beispiel hier in Wien alles ununterbrochen regulieren wollen, Nummerntafeln für Radfahrer fordern und mehr Nichtraucherschutz und Sturzhelme für Fußgänger und Ampeln auch dort, wo keine Kreuzungen sind, und Eingang verboten, Durchgang verboten, Ausgang verboten, sind entrüstet, wie wir von Brüssel überreguliert werden.
STANDARD: Warum gibt es in Österreich das Feindbild, "die in Brüssel"? Warum vermitteln Politiker ständig den Eindruck, man müsse gegen Brüssel kämpfen?
Menasse: Das machen nicht alle Politiker. Das machen vor allem die Bundespolitiker. Sie werden national gewählt, und sie wissen, dass die nationale Karte ihre Trumpfkarte und ihre politische Lebensversicherung ist. Es ist kaum einem Wähler bewusst, dass er bei einer Nationalratswahl auch eine europapolitische Entscheidung trifft. Immerhin haben der Kanzler und die Minister Sitze im Rat.
Aber es fragt sich doch keiner, ob der Spitzenkandidat der Partei, die er wählt, auch ein guter Europapolitiker wäre. Im Gegenteil: Man wählt auf der Basis innenpolitischer Interessen oder Ressentiments und erwartet dann, wenn der Politiker nach Brüssel fliegt, dass er dort nationale Interessen verteidigt, was immer die sein sollen. Nationalismus ist kein Produkt der Agitation von Herrn Strache, sondern systemlogisch schon längst ein Problem der politischen Mitte. Schauen Sie sich den österreichischen Vizekanzler an, den Obmann der "Europapartei": Er deliriert davon, Griechenland aus der EU rauszuwerfen, damit ein paar Stammtischbrüder markig Jawohl sagen. Das ist kurzsichtig und dumm. Das bringt ihm weder innenpolitisch etwas, noch europapolitisch.
STANDARD: Halten viele Österreicher deshalb so wenig von der EU, weil Boulevardmedien vor allem negativ über EU-Themen berichten und zumindest drei Parteien populistisches Kapital daraus zu schlagen versuchen?
Menasse: Der Boulevard hat in Österreich nie dem Flaneur, sondern immer nur dem Spießer gehört. Das ist furchtbar genug. Aber die Reflexion der Europapolitik leidet in allen Ländern darunter, dass dieser Widerspruch schwer aufzulösen ist: Europapolitik ist supranational, Medien sind national. Selbst große, seriöse Zeitungen in Deutschland oder Frankreich berichten aus Brüssel mit diesem Tunnelblick: Was kostet das uns Deutsche, oder wie sehr kränkt das uns Franzosen?
STANDARD: Nehmen Sie Bundeskanzler Faymann die Entwicklung zum Europapolitiker ab?
Menasse: Ja. Aus dem Kommunalpolitiker, der geglaubt hat, Bundes- oder Europapolitik funktionieren genauso wie Kommunalpolitik: Man braucht ein Bündnis mit einer lokalen Boulevardzeitung - ist ein Politiker geworden, der offenbar wirklich über Europapolitik nachdenkt. Er hat sehr gekonnt Merkel kritisiert, nämlich so, dass es europapolitisch vernünftig war, aber ohne einen dramatischen Konflikt mit dem Nachbarn zu provozieren. Er ist kein Vasall Deutschlands, wie es ja immer wieder erwartet wird, und er scheint auch kein Vasall der Krone mehr zu sein. Europapolitisch ist er heute neben Spindelegger ein Titan.
STANDARD: Sie plädieren dafür, die Regionen zu stärken. Sind Sie schon einmal in einer Sitzung des Ausschusses der Regionen gesessen?
Menasse: Sie gehen vom dürftigen Status quo aus. Ich gehe davon aus, was man vernünftigerweise fantasieren und erreichen kann. Wenn ich den alten europäischen Traum der Gründerväter - Überwindung des Nationalismus - weiterträume, muss ich mich fragen, wie kann das ausschauen? Was ist meine Identität? Was ist meine Heimat? Die Nation? Sicher nicht. Was soll das sein? Die Herzwurzel meiner Identität ist doch die Region, in der ich aufgewachsen bin und sozialisiert wurde. Die Vorstellung eines Europa der freien Assoziation der Regionen erscheint mir logischer und attraktiver als ein Europa der mühsam unter einem Topfdeckel niedergehaltenen nationalen Widersprüche.
STANDARD: Was heißt das demokratiepolitisch?
Menasse: Das heißt: mehr Demokratie. Für die Souveränitätsrechte, die die Nation abgibt, bekommen wir durch das Subsidiaritätsprinzip viel mehr zurück. Das ist im Lissabon-Vertrag so angelegt. Ein europäisches Parlament wählt die Kommissare, also die Regierung, die für diesen freien Kontinent Rahmenbedingungen produziert, innerhalb derer sich die Regionen gemäß ihrer Traditionen, Mentalitäten und lokalen Bedürfnissen entfalten können.
STANDARD: Das hieße mehr Macht den Dörflers, Prölls, Häupls?
Menasse: Das ist ein seltsamer Einwand. Was ist Demokratie? Wenn die Kärntner der Meinung sind, sie wollen den Dörfler, dann ist das so. In Europa wird es allerdings kein Kärnten mehr geben, sondern über die alten nationalen Grenzen hinweg die Alpe-Adria-Region. Finden Sie das nicht besser? Ich bin kein Politiker und kein Pragmatiker. Ich bin ein Dichter und kann Utopien entwickeln, die aus der Geschichte und der gegenwärtigen Krise ableitbar sind. Mein Buch ist kein Manifest, sondern beschreibt einen Lern- und Reflexionsprozess und entwickelt politische Fantasie, stellt sie zur Diskussion. In der Hoffnung allerdings, eine mittlerweile sehr ressentimentgeladene Diskussion zu versachlichen. (Alexandra Föderl-Schmid, DER STANDARD, 14.9.2012)